■ Lyrik: Begastet
Für Hölderlin ist der Dichter jemand, der als „Fremdling“ unter den Menschen wohnen muß. Gerade das Fremdsein ist es, was seine Sprachlust, sein Den-Worten-eine-Heimat-abgewinnen- Müssen, bedingt. Für den 1961 in Hausach im Schwarzwald als Sohn spanischer Gastarbeiter geborenen José F. A. Oliver erwächst diese Fremdheit schon aus seinem biographischen Hintergrund. Gleich in einem der ersten Gedichte seines neuesten Gedichtbandes, „Poem eines mir anvertrauten Gastlings“, das sich durch einen lakonischen Tonfall auszeichnet, springt der Autor unversehens von der spanischen in die deutsche Sprache: Despierto. / De madrugada despierto. / ... Die Atemzüge./ Leise Stimmen. / Erstickendes Flüstern. / ... Ertapptes Aufwachen. / Ein Aufwachen auf der Flucht. / ... Ein Aufwachen / wie man nur in Deutschland aufwachen kann. / ... Wie man gezwungen wird / in Deutschland aufzuwachen / wenn man in diesem Land geboren wurde / aber nie dazugehören durfte. / ... Dann braucht die Nacht eine Übersetzerin / ...“
Fast immer bleiben die Gedichte Olivers von der persönlichen Erfahrungen geprägt. Sie sind poésie engagée im besten Sinne. Sie versuchen die Ereignisse einzufangen, und kritisch zu begleiten, ohne plakativ zu sein. Sie nehmen auf die Gegenwart Bezug wie der Gedichtzyklus „dreifacher tod zu Mölln 1-111“, dessen sprachliche Verdichtung sich allzu voreiliger Interpretation entzieht. Manches deutsche Wort wie Heimat, in der Sprache Olivers „Heimatt“, oder mögliche Wortreihungen, die von den Wörtern „fremd“ „Fremde“ „Gast“ ausgehen, werden sprachspielerisch einer ständigen Revision unterzogen. Hieraus ergeben sich die Verfremdungen, wenn es zum Beispiel „begastet“, „gastlings“ oder „eingefremdet“ heißt.
„An meiner Wiege zwei Welten, in mir zwei Welten“, wie Oliver im Vorwort zu „HEIMATT und andere FOSSILE TRÄUME“ geschrieben hatte. So begibt er sich in die Auseinandersetzung, um „mit all unseren Sprachfetzen einen Weg zu gehen und entstehen zu lassen, der diese Fremde, die in ihnen zu Hause ist, überwindet“.
Seine Gedichte befinden sich im Dialog sowohl mit den großen spanischsprachigen AutorInnen dieses Jahrhunderts wie Neruda, Sepúlveda, Garcia Lorca, Octavio Paz als auch mit deutschsprachigen AutorInnen wie Celan, Hilde Domin, Ingeborg Bachmann, Nelly Sachs, Friedericke Mayröcker usw. Sie sind die eigentlichen „Gastgeber“, von denen der Autor mitgenommen werden möchte „in die leisen töne lauterer Fragen“, mit denen er „flüchtling sein will vor soviel seßhaftigkeit“.Wolfgang Heyder
José F. A. Oliver: „Gastling“, Gedichte, Das Arabische Buch, Berlin 1993, 34 DM
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