19. November 1989: Alles auf den Tisch
■ Fünf Jahre danach – eine taz-Serie
Immer mehr der kleinen, schmutzigen Dinge kommen ans Licht, die den Alltag in der DDR oft so unerträglich gemacht haben. Jener Schmutz, der sich im Spalt zwischen ausgestelltem offiziellem Anspruch und täglicher Wirklichkeit im Lande festgesetzt und zu faulen begonnen hatte. Die Berliner Zeitung berichtet über die luxuriösen Häuser, die eine Potsdamer Spezialbaufirma unter strikter Geheimhaltung für die Kinder von Mitgliedern des ehemaligen Ministerrates errichtet hat. Dort seien „kanadisches Holz, italienisches Fußbodenmosaik und westdeutsche Sanitärkeramik“ verbaut worden. Kloschüsseln aus dem Westen für die empfindlichen Gesäße von Funktionärskindern. „Warum nicht gleich goldene?“ fragen die Leute auf der Straße und erinnern sich daran, wieviel Zeit und Mühe es kostete, um das Material für die einfachsten Reparaturen zu besorgen.
Wut macht sich breit. Und die Kirche hebt wieder warnend die Finger. Im Namen der Menschlichkeit, sagen die Pfaffen, solle man doch auf Anschuldigungen und Verdächtigungen verzichten. Alte SED- Funktionäre sagen das auch, nur die Formulierungen unterscheiden sich ein bißchen. Vorwärts also und vergessen? Wenn das so einfach wäre. Ich habe in meinem Studium gelernt, daß ein Abzeß, eine Eiterbeule, die man nicht rechtzeitig öffnet, alles vergiften kann. Mag die Operation auch schmerzhaft sein im Moment, sie ist nötig. Um wirklich voranzukommen in diesem Land, muß alles auf den Tisch. Notlügen gelten nicht mehr. Und Abwiegeln nützt nichts. Wolfram Kempe
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