: „Daneben stellen und stundenlang warten“
Eine entlegene englische Kleinstadt im Schatten der großen britischen Krise ■ Aus Ventnor/Isle of Wight Dominic Johnson
Auf dem Teppich der kleinen Kneipe im Stadtzentrum räkeln sich zwei große Hunde. Ein dürrer alter Mann mit starrem Blick und strähnigen grauen Koteletten streift schweigend durch den Raum. Und am Tresen ist die Rede von Kaninchen. „Man packt sie einfach an den Ohren und haut kräftig auf den Hals“, erklärt die forsche junge Hundebesitzerin beim dritten Bier. „Ja“, ergänzt eine ältere Frau mit Regenschirm, „genau hier“ – und sie führt an dem dazwischen sitzenden Mann die exakte Bewegung aus. Das Gespräch verlagert sich auf erlaubte und unerlaubte Arten der Tiertötung, und die ältere Frau kommt auf Schildkröten zu sprechen: „Man muß sich daneben stellen und stundenlang warten, bis sie ihren Kopf rausstrecken. Dann haut man mit einem Sieben-Pfund-Vorschlaghammer drauf. Hätte gedacht, dem Innenministerium wär dazu was Besseres eingefallen.“
Die kleine Kneipe liegt im Zentrum von Ventnor, einer gemütlichen Stadt auf der Isle of Wight. Diese kleine Insel vor der englischen Südküste ist ein abgeschiedener Garten, vom Trubel des großen England weit entfernt. Ventnor wiederum liegt fast an der Südspitze, verborgen unter steilen Felsen und glitschigen Abhängen; seine Bewohner fühlen sich weit weg vom Trubel der Restinsel. „Wir sind hier dreißig Jahre zurück, und so soll es auch bleiben“, sagt ein pensionierter Soldat und denkt schaudernd an den neuen Kanaltunnel: „Brücken und Tunnel sind nichts für uns.“
Leitung zur Lottozentrale funktioniert nicht
In Ventnor scheint die Zeit tatsächlich stillzustehen. Der Weg über die Berge gibt den Blick frei auf ein Panorama aus prachtvollen, wenngleich zuweilen reparaturbedürftigen Villen zwischen Palmen und anderen mediterranen Bäumen. Klassisch geschwungene Glasfronten prägen die enge Einkaufsstraße, und wie eine verblichene Schönheit zeigt sich tief unten an der See eine Esplanade mit abgeblätterten Holzfassaden, Wasserfällen in bemoosten Felsen und Wanderwegen über grasbewachsenen Höhen.
Ventnors prächtige Außenansicht birgt morsche Innereien, die zugleich ein Stück englische Tradition darstellen. Die moderne Dienstleistungsgesellschaft, die in Großbritannien das Industriezeitalter ersetzen soll, scheint hier ein Fremdwort zu sein. Statt dessen stößt man auf fast realsozialistische Erscheinungen: „Firmen hier rufen nie zurück, sie beantworten Briefe nicht, man muß immer wieder selber Druck machen“, seufzt ein Hotelier. „Eine Autoreparatur, die sonst einen Tag braucht, dauert hier eine Woche.“
Nicht einmal das neue staatliche Lotto kann man in Ventnor spielen: Die Computerleitung zur Lottozentrale funktioniert nicht. Willkommen also im schrulligen alten England, das neuerdings Londoner Politiker aller Parteien als „community“ beschwören, im Sinne einer Rückkehr zur Gemeinschaft nach dem Egoismus der Thatcher-Ära.
Aber nicht alle sind willkommen in der Gemeinschaft. Am nächsten Abend ist der schweigsame alte Mann mit den Koteletten wieder in der kleinen Kneipe zu finden, diesmal in Begleitung einer betrunkenen Frau mit fettigen, rotgefärbten Haaren. Sie hält sich nicht an den ortsüblichen vornehmen Ton, die Stimmen werden zornig und laut. Plötzlich steht die Frau in der Tür, beschimpft den Barmann, und der alte Mann führt sie ohne ein Wort hinaus. Bei den wenigen Gästen an den Tischen entschuldigt sich der Wirt persönlich: Die Frau stehe im ganzen Ort unter Kneipenverbot, denn sie habe in grauen Vorzeiten in einem Pub ein Fenster eingeworfen. Sie benehme sich „unhöflich“. Die Polizei sei gerufen worden. Man möge sich bitte nicht stören lassen.
Die Kehrseite von Gemeinschaft ist der Ausschluß Mißliebiger, und auch sonst ist das, was auf den ersten Blick als Überbleibsel des alten England erscheint, eher ein Ergebnis der britischen Langzeitkrise. „Wir haben den höchsten Bevölkerungsanteil von alten Menschen auf der ganzen Insel“, klagt Vic King vom Kreisrat „South Wight Borough Council“. Die Jugend ziehe mangels Perspektiven fort. „Ventnor braucht dringend einen neuen Schub.“
Ventnor leidet nämlich unter der neuen Zeit, in der nur die Marktwirtschaft zählt. Ginge es nur nach der, gäbe es Ventnor gar nicht. Die Stadt verdankt ihre Existenz allein dem Voluntarismus der Gründerzeit unter Queen Victoria Mitte des 19. Jahrhunderts. Historisch war die Isle of Wight immer ein wildes Räubernest, Schlupfloch von Piraten und Schmugglern, die von illegaler Schnapseinfuhr aus Frankreich und der Ausplünderung gestrandeter Handelsschiffe lebten. Erst die Furcht vor einer Invasion durch Napoleon um 1800 bewog die britische Krone dazu, auf der Insel ständig Soldaten zu stationieren und den Prozeß der Zivilisation in Gang zu setzen.
1840 wurde an der Südspitze der Insel unweit Ventnor ein Leuchtturm errichtet, der fremde Schiffe von der gefährlichen Küste fernhielt. 1842 schaffte der liberale britische Premierminister Robert Peel die meisten Einfuhrzölle ab und entzog damit den Schmugglern die Existenzgrundlage. 1845 baute Queen Victoria sich im Norden der Insel einen Landsitz, Osborne House, den sie mit indischen Schätzen vollstopfte.
Hernach, in der Blütezeit des Empire, geriet die Isle of Wight zur Sommerfrische für betuchte Engländer. Es entstanden Eisenbahnen, und es kamen Poeten. Das unscheinbare Fischerdorf Ventnor mit wenigen hundert Einwohnern, das der königliche Arzt Sir James Clark 1830 als möglichen Luftkurort entdeckt hatte, wurde Endstation der Bahnlinie und wuchs bis 1871 auf 5.000 Bürger an – dabei ist es seither geblieben. Um den Bahnhof, eine Lungenklinik und den ausgebauten Hafen herum entstand eine prächtige Seestadt. Die meisten romantischen Dichter Englands verbrachten schöpferische Monate in den nebelumhangenen Bergen der Gegend. Sogar Karl Marx kam zweimal nach Ventnor.
Nur einige Gedenktafeln erinnern heute noch an die großen Zeiten. Die Eisenbahn endet seit 1966 im nördlichen Nachbarbad Shanklin. Die Klinik wurde 1968 geschlossen und abgerissen. Endgültig starb der Hafen erst 1993, als die Kreisbehörde das Pier abriß – eine Lokalposse aus dem Zusammenprall alter und neuer Zeiten: Die unter Thatcher geschaffene private Wassergesellschaft „Southern Water“ hatte versprochen, im Einklang mit neuen EG- Richtlinien eine Klärleitung ins Meer für Ventnors Abwässer zu bauen und drumherum eine kleine Fischermole zu errichten, wozu aber die Behörden das Pier verschwinden lassen müßten. Das Pier verschwand, „Southern Water“ baute weder Leitung noch Mole – wegen „unvorhersehbarer technischer Schwierigkeiten“. Da sich die Kreisbehörde immer noch auf die Methode „Vertrauen gegen Vertrauen“ verlassen und vergessen hatte, mit der Wasserfirma einen schriftlichen Vertrag zu schließen, ist Ventnor nun hafenlos.
Wie kann eine solche Stadt, die mit dem Empire aufstieg und verfiel, einen „neuen Schub“ bekommen? Vom britischen Staat ist wenig zu erwarten. Die von eigensinnigen Liberalen dominierten Inselbehörden – die Isle of Wight ist eine eigene Grafschaft – befinden sich derzeit im Kleinkrieg mit der Regierung in London über das Reizthema Pflege. Seit April 1993 sind in Großbritannien nicht mehr die zentralen Behörden, sondern die jeweilige Grafschaft (County) für häusliche Pflege verantwortlich, die unter dem von den Konservativen propagierten Schlagwort „Pflege in der Gemeinschaft“ (care in the community) immer mehr Funktionen des staatlichen Gesundheitsdienstes ersetzt. Allerdings darf die Grafschaft nicht selber bestimmen, wieviel Geld sie dafür ausgibt, sondern das Budget wird von London aus verteilt. Die Isle of Wight rechnete für 1994 mit 5,4 Millionen Pfund (13,5 Millionen Mark), bekam aber nur 3,3 Millionen. Am 11. November erklärte Sozialdirektor Bill Davison, das Geld reiche nur noch eine Woche. Seitdem wütet die Grafschaft in Zeitungsanzeigen gegen London und sucht in ihren Reserven nach Überbrückungsgeldern.
Inzwischen befinden sich sechs weitere englische Grafschaften in der gleichen Lage, zumeist ländliche, auch größere wie Lancashire oder Devon. Dennoch bezichtigt das Lokalblatt von Ventnor, ein einfaches fotokopiertes Heft im A4-Format, die eigene Grafschaft mangelnder Vorsorge und fühlt sich an Usancen jugoslawischer Staatsbetriebe erinnert.
Mag sein, daß die Klagen der Inselbehörden wenig Widerhall finden. Aber die Schlußfolgerung ist klar, und sie ist die des Thatcherismus: Da der Staat nicht anders kann, als mit sich selber zu streiten, ist sich jeder selbst der nächste, und Initiativen müssen von unten kommen. Seit Jahresbeginn erarbeitet ein von der Kreisbehörde initiiertes Gesprächsforum, das „Civic Trust Regeneration Unit“, in Ventnor auf der Basis von öffentlichen Umfragen einen „Aktionsplan für Ventnor“, in dem die diversen Unzufriedenheiten in Vorstellungen für den „neuen Schub“ umgemünzt werden sollen.
Ein neuer Schub – aber ohne Ruhestörung
Der im Oktober veröffentlichte erste Entwurf ist noch wenig spektakulär, dafür aber konkret. Ganz vorn auf der Liste der Vorschläge steht der Wiederaufbau der Bahnlinie, es folgen umweltgerechter Tourismus und die Förderung von arbeitsplatzschaffenden Basisinitiativen.
„Unser Vorgehen zielt darauf, alle Teile der Gemeinschaft in die Vorbereitung der Strategie einzubeziehen“, heißt es. „Unsere Versammlungen fördern lokales Wissen und Ideen, die letztendlich dem Regenerationsprozeß seine Richtung geben.“ Unverkennbar ist die Handschrift der örtlichen Grünen, die am Entwurf kräftig mitgearbeitet haben, und den Abschluß der vierzig Vorschläge bildet ein basisdemokratischer Aufruf: „Ventnor braucht eine koordinierende Körperschaft... Sie sollte eine faire Partnerschaft des staatlichen, des privaten und des ,gemeinschaftlichen‘ Sektors darstellen.“ Ein „runder Tisch“.
Kann aber das Insistieren auf „Gemeinschaft“, auch „zivile Gesellschaft“ genannt, wirklich die Probleme beheben? Im nicht weit von Ventnor entfernten Dorf Chale ist das Modell „Partnerschaft“ schon dabei, auf die Probe gestellt zu werden: Der Gemeinderat hat geschlossen gegen ein Vorhaben protestiert, nächsten Sommer ein gigantisches Popfestival entlang der alten Militärstraße abzuhalten, in Erinnerung an die mehrtägigen Musik-Happenings, die Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre die Insel zu einem Begriff englischer Alternativkultur machten. Man fürchtet Besucherinvasionen und Ruhestörung.
Es rumort ein wenig, aber noch ist die Richtung nicht klar. Man sucht nach dem eigenen Boden unter den Füßen und findet aus den Schablonen der britischen Politik doch nicht heraus. In Ventnor, dieser Insel auf der Insel, wo Erscheinungen täuschen können, ist das Ergebnis vielleicht dasselbe wie vor fünfzig Jahren. Damals, nach dem Zweiten Weltkrieg, traf sich in der kleinen Kneipe im Stadtzentrum regelmäßig eine Gruppe illustrer Persönlichkeiten und machte imaginäre Politik. Ein Rentner namens Tom Watson spielte Premierminister; der Besitzer eines „Schweizer Cafés“ war Außenminister, diverse Geschäftsleute und Ex-Militärs komplettierten die Runde. Die untere Bar der kleinen Kneipe hieß damals nach dem Amtssitz des britischen Premiers „10 Downing Street“.
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