■ Prost Neujahr: Gelebtes Volkstum
Heute abend rumst und knallt es in halb Europa wieder so heftig, daß sich für Sekunden sogar das Ozonloch am Nordpol erschreckt versteckt. Warum eigentlich so viel Lärm um nichts? In vielen Religionen, so belehrt uns Meyers Konversationslexikon, werde an Neujahr ein „Kultdrama“ vollzogen: Um die bösen Mächte zu vertreiben, wird möglichst laut und lärmend gefeiert. Dabei ist Berlin noch ein Tempel der Stille im Vergleich zu manchen süditalienischen Orten. Dort wird, oft zum beträchtlichen Schaden nächtlicher Spaziergänger, das alte Geschirr südlich-temperamentvoll aus dem Fenster gedonnert. Flankiert wird dieses gelebte Volkstum in Neapel durch einen weiteren hübschen Brauch: mit Pistolenschüssen in die Luft. Pech für Oma, wenn der Schütze einen Balkon tiefer lebt und nicht richtig zielen kann: Neujahr für Neujahr kommen in Napoli durchschnittlich zehn Menschen ums Leben, absichtliche Querschläger der Mafia nicht mitgezählt.
Alles kein Wunder, wenn man weiß, daß die Mode des Neujahrfeierns am 1. Januar im heutigen Italien kreiert wurde. Für das alte Israel hatte das neue Jahr mit dem Versöhnungsfest im Herbst begonnen. Um zu zeigen, daß sie alles besser wissen, hatten die Christen den Beginn des neuen Jahres auf Mariä Verkündigung am 25. März verlegt. Aber als im nachchristlichen Rom immer am 1. Januar gezecht und gehurt wurde, beteiligte sich das Christenvolk trotz finsterer Drohungen der Päpste, Popen und Pfaffen stets fröhlich an den Ausschweifungen. Da sich der heidnische Brauch hartnäckig hielt, erhielt er im Jahre 1691 endlich den päpstlichen Segen. Papst Innozenz XII. hieß also der Held, der uns den arbeitsfreien Tag am 1. Jänner beschert hat. In aufopfernder Weise, denn dadurch machte er nur seinen Amtsvorgänger, Papst Sylvester I. (314–335) berühmt, dem die Kirchenoberen für eine angebliche Kaiserheilung einen Gedenktag am 31. Dezember geschenkt haben. Also: Prost Innozenz statt Prost Sylvester! Und Mitleid mit allen Knallophoben! Ute Scheub
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