: Die Verlierer von Haus 6
Die Jugendhaftanstalt Hameln hat ein geschütztes Haus für die, die im Knastalltag unterzugehen drohen / Doch gerade hier gab es Selbstmorde ■ Aus Hameln Jürgen Voges
„Ist echt hart, daß sich die Leute hier wegmachen“, sagt der bärtige Ulf mit den rotblonden Locken. „Natürlich reden wir noch darüber“, meint Klaus, wenn man ihn nach den Selbstmorden hier im Haus 6b der Jugendanstalt Hameln fragt. Im Haus 6b, der sozialtherapeutischen Abteilung des Gefängnisses, die eigentlich besonderen Schutz bieten soll, sind vergangenes Jahr drei Jugendliche ums Leben gekommen. Zwei weitere junge Männer starben 1994 in anderen Häusern der einst als Reformknast konzipierten Anstalt.
„Die kümmern sich doch nicht um uns, die tun doch für uns nichts“, beschwert sich Klaus über sein Leben hier drinnen. In der Sechsergruppe, die im Haus 6b zusammensitzt, ist Klaus mit seinen 23 Jahren der Älteste: Ein korpulenter junger Mann in schwarzem Blouson, mit Bärtchen, kahlgeschorenem Nacken und roten Strähnen, die ihm ins Gesicht fallen. Schon zum drittenmal sitzt er in Hameln ein. Ende Februar soll er entlassen werden.
Bis vor einigen Monaten schien draußen für ihn alles geregelt, doch dann hatte er zum ersten Male alleine Freigang. Viermal war er davor in Begleitung draußen gewesen, diesmal sollte er sich allein auf den Weg zu seiner Bewährungshelferin machen. Eine Wohnung war in Aussicht, und er hätte sich auch noch bei seinem Vermieter vorstellen sollen. In kurzen prahlerischen Sätzen schildert Klaus, was tatsächlich passiert ist. „War ein schöner Abend, hat sich schon gelohnt. Um sechs sollte ich wieder drin sein, und bin um halb eins mit grüner Minna gekommen“, erzählt er trotzig. „Erst war ich bei der Bewährungshelferin, dann noch an so einem türkischen Standimbiß. Raki habe ich getrunken, eine halbe Flasche. Dann war ich noch in dieser Disco, da haben sie mich dann aus der Toilette geholt – mit Handschellen. Am Mittag bin ich dann hier in der Absonderung wieder aufgewacht.“
Von „Schutzhaft“ reden die sechs Jugendlichen, wenn es um ihr Haus 6b geht. Die anderen Gefangenen nennen es abfällig das „Dulli-Haus“, weil „du eine Dulli, eben ein Weichei bist, wenn du hierher kommst“. Im Haus 6b sind Jugendliche untergebracht, die im Knastalltag unterzugehen drohen, die besondere psychische Probleme haben oder jung und haftunerfahren sind. Klaus ist eher ein ruhiger Typ mit langsamen Bewegungen, einer, dem die Worte keineswegs flott über die Lippen gehen. Aber ein Schwächling will er nicht sein. Er sitzt wegen zweifachen versuchten Totschlags.
Seit den Selbstmorden in Hameln – vorher hatte es hier über Jahre keine Todesfälle gegeben – denkt eine Arbeitsgruppe Suizidprophylaxe in Auftrag der niedersächsischen Justizministerin über Änderungen im Knastalltag nach. Im Frühjahr war ein Jugendlicher nach einem Ausgang an Heroin gestorben: Er hatte einen Fünf- grammbeutel der Droge schmuggeln wollen und ihn verschluckt; der Beutel war aufgegangen. Im Sommer hatten drei Jugendliche auf der Station 6b innerhalb weniger Tage zwei Brände gelegt. Bei dem ersten Feuer verbrannten und erstickten ein 16jähriger und ein 19jähriger Gefangener. Bei dem zweiten starb ein 20jähriger. Dann hatte sich im Herbst ein 28jähriger erhängt, der nicht aus der Jugendanstalt in den Erwachsenenvollzug verlegt werden wollte. Die Arbeitsgruppe will vor allem den Brandschutz in der Anstalt verbessern.
Die Jugendanstalt mit ihren heute 440 Gefangenen wurde Anfang der siebziger Jahre als Reformgefängnis geplant. Die Insassen, so stellte man es sich damals vor, sollten nicht primär das Gefühl haben, inhaftiert zu sein; sie sollten in Wohngruppen betreut, in einer der zahlreichen Lehrwerkstätten ausgebildet, eben nacherzogen werden. Die einzelnen Häuser der Anstalt erinnern an einen Schulbau eben aus den Siebzigern, Bäume stehen rund um einen Teich in der Mitte des Geländes. Die vielen – auch hier immer verschlossenen Türen – sind nicht aus Stahl, sondern aus (genügend dickem) Glas. Den Stacheldraht auf den Gebäuden vorn gab es früher nicht, und auch hinten, wo heute Nato-Draht-Rollen zwischen den Büschen liegen, trennten früher nur Lichtschranke und Wassergraben drinnen und draußen.
Aus der Runde hier in Haus 6 nutzt allerdings nur Tom, der mit siebzehn Jahren jüngste, eine der zahlreichen Möglichkeiten zur Berufsausbildung. Er nimmt am Berufsgrundbildungsjahr Bau teil. Im Juni, wenn er entlassen wird, will er eine Lehre auf dem Bau beginnen. Zu Hause, dort, wo auch sein Großvater arbeitet.
Die sechs Jugendlichen aus dem „Schutzhaft“-Haus sind allesamt Deutsche, und darauf legen sie mit einer Ausnahme auch Wert. In Hameln seien weit mehr Ausländer als Deutsche in Haft, behaupten sie. Tatsächlich haben etwa 40 Prozent der Gefangenen keinen deutschen Paß. Sie sehen nicht nur in der Untersuchungs- und der Abschiebehaft selbst, sondern auch in Strafhaft oft der Abschiebung entgegen. Die steht etwa bei Drogendelikten an, wenn die Hälfte der Strafe verbüßt ist. Wem die Abschiebung bevorsteht, der hat mit Nacherziehung oder Berufsausbildung wenig im Sinn.
Die Jugendanstalt Hameln ist heute weniger denn je eine pädagogische Idylle. Einen „rechtsfreien Raum“, in dem Gewalt den Alltag bestimmt, nennt sie Rüger Perm, der Leiter der Aufnahmeabteilung: „Unser Konzept ist gescheitert“, sagt er, „Wir müssen es grundsätzlich überdenken.“
Ausländer und Drogen, das sind die Themen, auf die die Jugendlichen immer wieder zu sprechen kommen. „Hier im Knast kann man alles kaufen“, sagt Klaus, „Hasch, Kokain, Gift – also Heroin.“ Aber teuer seien die Drogen, 0,2 Gramm Haschisch etwa würden 20 Mark kosten. „Das ist wie zu Hause, wenn es dir schlecht geht, dann geht es dir nach zwei, drei Bieren eben besser“, erklärt Ulf den Drogenkonsum. Schließlich gäbe es hier kaum etwas anderes. Für den, der Freigang bekommen wolle, sei „Gift“ am besten. Das könne man schon nach drei Tagen bei der „UK“, der Urinkontrolle nicht mehr nachweisen. Wer raus wolle, müsse eine saubere UK haben, erläutert der 23jährige und berichtet stolz, daß bei ihm bei fünf UKs in Haus 6b keine Drogen nachgewiesen wurden.
„Ich wollte einen Türken mit einer Deutschlandfahne erwürgen“, prahlt Klaus mit seinem zweiten versuchten Totschlag. Aber diese Geschichte scheinen ihm selbst die anderen Jugendlichen nicht abzunehmen. „Ich werde immer für einen Fascho gehalten“, sagt dann der 19jährige Stefan. Jetzt hat er kurze dunkle Haare, früher hat er auch mal „'ne Glatze“ gehabt. Die Tätowierung auf Stefans Arm, der „schon große Unterschiede nach der Nationalität macht“ soll ein Sonnenwendzeichen sein. In das Haus 6b, in die „Schutzhaft“, sei er zur richtigen Zeit gekommen, meint er, „vorher hatte ich Streß mit den Ausländern, fühlte mich bedroht, wurde geschlagen“. Ein anderer aus der Runde fügt hinzu: „Ich war vor zwei Jahren der einzige Deutsche auf meiner Gruppe, der Rest waren Türken und Russen. Die haben alle zusammengehalten, und dann steht man allein da. Ich setze mich halt nicht durch, und die haben mich geärgert und ausgenutzt, Geld und Klamotten abgezogen.“ Der nächste sollte von seinen 100 Mark Hausgeld, die er im Monat zu Verfügung hat, 80 Mark Schutzgeld bezahlen. Schon zwei, drei Tage vor dem 15. des Monats, bevor das Geld ausgezahlt wird, „sprechen dich die ,richtigen Leute‘ an“, ergänzt Klaus. „Die sagen: Willst du nicht was auf Deckel, auf Pump kaufen? Wenn du dich dann verrechnest, mehr einkaufst, als du hinterher bezahlen kannst, dann ist der Streß da.“ Angeboten vor dem 15. würden natürlich Drogen. Und die Drogenhändler, jene „richtigen Leute“, das seien fast immer „Ausländer“, behauptet Klaus.
Anstaltspsychologin Monika Gerretshauser resümiert die Konfilkte zwischen Deutschen und Ausländern: „Jemand, der hier mit einer leichten rechten Einstellung reinkommt, geht mit einer manifestierten wieder raus.“ Die wirklichen „rechtsorientierten Gewalttäter“, mit denen Gerretshauser einmal wöchentlich eine Gesprächsrunde hat, sind allerdings nicht in Haus 6b untergebracht. Die zählten nicht zu den Schwachen, setzten sich auch gegen jene Gruppen noch eher durch, die – quasi landsmannschaftlich verbunden – die Hamelner Knasthierarchie dominieren.
Das ganze sei aber kein Problem der Nationalität, sondern oft eines des Alters, berichtet Rüdiger Perm. Judendstrafen seien nun mal geringer als die für Erwachsene, und deshalb würden vor allem Ausländer ihr Geburtsdatum oft falsch angeben. „Wir haben hier inzwischen 35jährige Berufsverbrecher inmitten der Jugendlichen. Die geben dann in ihren Gruppen natürlich den Ton an.“ Völlig unabhängig von der Nationalität hätten die im Jugendvollzug nichts zu suchen.
In der Jugendanstalt Hameln wurden in den letzten Jahren viele Ausbildungsangebote umstrukturiert. An die Stelle der vollwertigen Berufsausbildung ist das Anlernen getreten. „Die jugendlichen Straftäter bringen heute weniger Bildung, weniger intellektuelle Fähigkeiten mit. Mindestens 90 Prozent haben eine Drogenproblematik oder eine Drogenaffinität“, meint Monika Gerretshauser. Ulf kam als Fixer nach Hameln. Ein anderer aus der Runde, Norbert, bezeichnet sich als Alkoholiker. Klaus hat mit neun Jahren angefangen, Alkohol zu trinken, mit dreizehn nahm er Drogen. So wird einer zum mal gewalttätigen, mal hilfesuchenden Kind-Mann. Immerhin hat er jetzt Lesen und Schreiben gelernt.
Schutz soll die Station 6b bieten. Dort sammeln sich die Verlierer im Knast-Überlebenskampf. Zumindest einer der drei Jugendlichen, die dort im Sommer qualvoll starben, war auch Opfer sexuellen Mißbrauchs. Klaus denkt, daß die beiden, die im Sommer in ihrer Gemeinschaftszelle Feuer legten, einfach abhauen wollten: „Die wollten nach dem Brand ins Krankenhaus verlegt werden und von da raus.“ Abhauen ist in Hameln die fixe Idee. Doch ob tatsächlich Flucht das Motiv für den Brand war? Die Toten kann man nicht mehr fragen.
Geändert habe sich nach den beiden Bränden nicht viel, sagt Klaus, neue Matratzen hätten sie bekommen, feuerfeste, mit Sisal drin. „Die sind steinhart.“ Und die neuen Gardinen auf den „Hütten“, wie die Zellen hier heißen, könne man auch nicht mehr anzünden. Aber weiterhin kümmere man sich diesem Haus nicht um die Gefangenen. „Wenn ich auf Ampel gehe“, wenn also die Notruftaste gedrückt wird, „dauert das hier immer noch eine halbe Stunde, bis einer kommt.“
Daß auf der Station 6b jetzt ein Sozialarbeiter mehr Dienst tut – neben den Schließern arbeiten vier Fachkräfte auf dreieinhalb Stellen mit 24 Jugendlichen – ist für Klaus nicht wichtig. Ebenfalls nicht, daß man psychisch einigermaßen gefestigte Insassen in die Wohngruppe aufgenommen hat. Denn natürlich ist die Hauptsache für Klaus, hier herauszukommen. Allerdings hat er auf seinem ersten Alleinausgang alles getan, um drin zu bleiben. Vor seinem „schönen Abend“ war mit dem Job in einer Jugendwerkstatt und mit der Wohnung eigentlich alles klar. Das mit der Wohnung hat sich nun zerschlagen, und er weiß nicht recht, wohin: „Ich habe noch 'nen Kumpel, zu dem ich vielleicht kann.“
Was Klaus verschweigt: An dem „schönen Abend“ hat er noch irgendwo eingebrochen. Dabei blieb, wie eine Visitenkarte, sein Ausgangsschein vom Knast am Tatort zurück.
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