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Vorsicht: Truthahnfalle Von Ralf Sotscheck

Die entfernten Verwandten, die am Samstag überraschend vor der Tür standen, kamen mir von Anfang an verdächtig vor. Sie hatten die Arme hinter dem Rücken verschränkt, als ob sie eine unangenehme Überraschung verbergen wollten. Ich hatte recht: Kaum waren sie im Haus, da drückten sie mir zwei Stanniolpäckchen in die Hand. Für illegale Substanzen waren die Pakete leider viel zu groß, so daß nur eine Möglichkeit blieb: gebratene Truthahnkeulen. Mit gefrorenem Lächeln schob ich die Gabe zu den anderen Geflügelteilen in den Kühlschrank und bot den Verwandten einen Whiskey an. Den hatten sie sich redlich verdient. Schließlich hatten sie uns einwandfrei überlistet. Unsere Nachbarn waren besser gewappnet: Sie deponierten acht Flaschen Milch vor der Tür, um einen Langzeiturlaub vorzutäuschen. Vom Beobachtungsposten hinter der Gardine amüsierten sie sich dann über die Verwandtschaft, die mit gegartem Federvieh anrückte und im Austausch auf alkoholische Getränke hoffte.

Am 6. Januar feiert Irland „Nollaig na m Ban“, das Weihnachtsfest der Frauen. Ursprünglich soll dieses Datum der Geburtstag Christi gewesen sein, der durch den Wechsel zum Gregorianischen Kalender aber um zwei Wochen vorverlegt wurde. Wie dem auch sei: An diesem Tag sollen die irischen Männer ihren Frauen einen Truthahn braten, doch wie Weihnachten und Neujahr bleibt das an den Frauen hängen. Die Begeisterung für das Großgeflügel ist nach der Weihnachtsvöllerei freilich wie weggeblasen, spätestens in der ersten Januarwoche lechzt die gesamte Bevölkerung nach Fish and Chips. Doch was soll mit dem teuren Puter geschehen? Eine Bekannte hatte eine nette Idee: Sie steckte am Neujahrsabend die Überreste in die Küchenmaschine, goß Unmengen Weißwein dazu und verwandelte das verhaßte Tier in eine „französische Paté“.

Der Weihnachtstruthahn ist der wichtigste. Er muß nicht nur das perfekte Gewicht, sondern auch einen günstigen Preis haben. Manchmal geht das schief. Mein Freund Tom hatte seiner Schwiegermutter empfohlen, das Tier rechtzeitig zu kaufen, doch sie bestand darauf, bis zur letzten Sekunde zu warten, weil der Supermarkt dann gewöhnlich die Preise senkte. Diesmal waren die frischen Puter jedoch ausverkauft, und die gefrorenen wurden nicht verbilligt. In der Not erstand man einen Gefriertruthahn und sägte ihm die Beine ab. Danach paßte es mit Müh und Not in den Mikrowellenherd und taute gerade noch auf, so daß man kurz vor Mitternacht essen konnte.

Früher kam der Weihnachtsbraten frisch vom Land. Da fast jede Dubliner Familie Ahnen auf dem Land hat, schickten die Verwandten den gerupften Truthahn mit der Bahn in die Hauptstadt. Anhand des Namensschildchens um das Puterbein konnte man seinen Braten identifizieren. Ob das Geflügel damals glücklicher als die heutigen Batteriegenossen waren, ist zweifelfaft. Eine Nachbarin erzählte, daß ihre Tante früher jedes Jahr ab Ende November die Truthahnherde einzeln ins Wohnzimmer zerrte und jedem Tier mit einem Holzlöffel Kartoffelbrei in die Kehle drückte – wegen des Gewichts. Für einen Augenblick war ich am Samstag versucht, der keulenbewaffneten, heimtückischen Verwandtschaft dasselbe anzutun – mitsamt Stanniolpapier.

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