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■ Das AKW Rheinsberg wurde, wie jetzt aus aufgefundenen Beständen der Gauck-Behörde zu entnehmen ist, vor allem nach dem Tschernobyl-GAU 1986 rege kontrolliert - durch die Stasi...(Staats-)Sicherheit an erster Stelle

Das AKW Rheinsberg wurde, wie jetzt aus aufgefundenen Beständen der Gauck-Behörde zu entnehmen ist, vor allem nach dem Tschernobyl-GAU 1986 rege kontrolliert – durch die Stasi. Sie hatte nicht nur Angst vor einer ähnlichen Havarie, sondern war im AKW auf allen Ebenen präsent, um zu verhindern, daß Angestellte schlampten wie die „Russen“.

(Staats-)Sicherheit an erster Stelle

Auch „die Freunde“ waren gefährlich. Am 27. Juli 1988, einem Mittwoch, exakt um 10.27 Uhr, informierte der Stasi-Chef des Kreises Neuruppin per Fernschreiben die Vorgesetzten in Potsdam, daß ein sowjetischer Schwenkflügler das Atomkraftwerk Rheinsberg in geringer Höhe überflogen hatte. Alarm. Denn die Stasi-Mitarbeiter wußten, daß das Atomkraftwerk keinem Flugzeugabsturz standgehalten hätte. Noch war die Katastrophe von Tschernobyl in der DDR ein Tabuthema. Doch das Ministerium für Staatssicherheit war alarmiert. Es traf seine eigenen Vorkehrungen.

Vor wenigen Tagen erst fand die Berliner Gauck-Behörde eine Akte, die zeigt, wie das Atomkraftwerk Rheinsberg von der Hauptabteilung XVIII des Staatssicherheitsdienstes (Sicherung der Volkswirtschaft) überwacht wurde. Zuständig war die Neuruppiner Kreisdienststelle. Das vorliegende Material umfaßt auch Dokumente, die bis in das Jahr 1978 zurückreichen. Aber erst nach 1986, nach Tschernobyl, ist eine rege Kontrolltätigkeit zu erkennen.

Die Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) hatten in oppositionellen Gruppen schon länger Dinge gehört, die dem Ministerium zu denken gaben. „Meinungsäußerungen bringen zum Ausdruck, daß durch leitende Mitarbeiter ernsthafte Versäumnisse in Sicherheitsfragen zugelassen und bekannte Mängel geduldet wurden“, heißt es in einem Protokoll der MfS-Kreisdienststelle Neuruppin von 1978. Und an anderer Stelle werden mögliche „Angriffe kirchlicher Kreise und feindlich-negativer Umweltgruppen“, verbunden mit „operativ-bedeutsamen Aktivitäten“ eines Pfarrers, befürchtet.

Doch die Gefahr kam nicht nur von außen. So forderte das MfS zwar, zumindest eine Wechselsprechanlage zwischen Haupteingang und Hauptwache zu installieren. Die Zäune sollten so gestaltet werden, daß eine Unterquerung unmöglich ist. Zwischentüren müßten elektrische Türöffner erhalten, die „Konzeption zur zugriffsicheren Lagerung des Kernbrennstoffs“ sei zu bestätigen.

Weit mehr aber als die Abwehr mutmaßlicher Umweltaktivisten lag im argen. Das Atomkraftwerk Rheinsberg mit 70 Megawatt Leistung ist das älteste Atomkraftwerk auf deutschem Boden überhaupt. Dem Prestigeobjekt der DDR fehlte nicht nur das im Westen übliche Containement, die Schutzhülle um den Reaktor, es gab auch sonst „ständig technische Schwierigkeiten“, sagt Jürgen Kraemer, zwischen 1982 und 1990 Abteilungsleiter Kernkraft im DDR-Energieministerium.

Devisen für westliche Meß- und Prüftechnik

Er weiß, wovon er spricht. „Das Problem bestand doch darin, daß Rheinsberg nicht den internationalen Sicherheitsstandards entsprach. Das MfS wußte selbstverständlich davon.“

Nach dem Tschernobyl-GAU aber gaben sich Mielkes Leute mit dem bloßen Wissen nicht mehr zufrieden. Nach einer Politbüro-Sitzung zu diesem Thema wurden Kontrollen in neuen Größenordnungen verfügt. Auch Ex-Abteilungsleiter Kraemer erinnert sich, daß der Einfluß der Partei auf das Staatliche Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz zurückgedrängt wurde. Verstärkt wurden auch Devisen zur Verfügung gestellt, um Meß- und Prüftechnik im Westen einkaufen zu können.

Doch die Stasi mochte an diese interne Korrektur des sozialistischen Unfehlbarkeitsanspruchs nicht glauben. Jede Störung führte zu eigenen Ermittlungen. Und das waren viele. Allein zwischen Oktober 1987 und Mitte 1988 kam es in Rheinsberg zu – O-Ton des Ministeriums für Staatssicherheit – insgesamt zehn Störungen, von „denen acht Ereignisse mit notwendigen Außerbetriebnahmen bzw. Netztrennungen“ verbunden waren. Das gravierendste Beispiel datiert vom 21. Oktober 1987. Das Primärkühlsystem in Rheinsberg erwärmte sich so bedrohlich, daß die Pumpe außer Betrieb genommen werden mußte. Um 19.35 Uhr wurde schließlich der Reaktor komplett abgeschaltet. Im Rahmen dieser Untersuchungen teilte die AKW-Leitung gleich noch mit, daß zwischem dem 3. und 10. Oktober 1987 auch etwa 60 Kubikmeter flüssige radioaktive Rückstände ausgelaufen seien.

Die Stasi protokollierte die Vermutung des Staatlichen Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz, wonach das radioaktive Medium „wahrscheinlich“ in die darunter liegende Betonwanne abgelaufen sei.

Schlußfolgerung: „Über IM in Schlüsselpositionen wird Einfluß auf eine umfassende objektive Untersuchung aller Schadensereignisse genommen.“ Die gab es reichlich. Sechs Inoffizielle Mitarbeiter Sicherheit, ein IM im besonderen Einsatz, ein Gesellschaftlicher Mitarbeiter Sicherheit „Kraft“ und ein IM „Diana“ mit konspirativer Wohnung aus dem Bereich der Betriebsfeuerwehr. „Zur Schließung von Sicherungslücken“, so das erklärte Ziel, sollten in den Folgejahren gezielt weitere IM für die Bereiche der einzelnen Schichtbelegungen, im Strahlenschutz und bei der Überwachung geworben werden. Offensichtlich mißtraute die Staatssicherheit den staatlichen Behörden und der Atomkraftwerks-Leitung, denn die IM waren dafür vorgesehen, „unabhängig von der Produktion“ eine „Einschätzung von Signalen (radioaktiver Strahlung)“ vorzunehmen.

Schon kurz vor dem Störfall vom Oktober 1987 hatte die Stasi gewarnt: Als „eines der wichtigsten Probleme“ gelte die „Beherrschbarkeit von Rohrbrüchen bzw. -abrissen im Kühlkreislauf“. Sicherheit zuerst. Wie überall – und also auch im Atomkraftwerk – erhoffte sich die Staatssicherheit durch ein engmaschiges Netz repressiver Maßnahmen eine Eindämmung der Probleme. Sogenannte Experten-IM, verteilt auf alle technischen Bereiche, sollten das MfS ständig über aktuelle Entwicklungen informieren. Dazu kam, daß drei Atomkraftwerke dem höchsten Geheimhaltungsschutz unterlagen.

„Feindlich-negative Einwirkungen“

Wie ein roter Faden zieht sich durch das Stasi-Material die Frage nach möglichen „feindlich-negativen Einwirkungen“. Dennoch wurde in einer „politisch-operativen Lageeinschätzung“ von 1987 festgestellt, daß zum damaligen Zeitpunkt (662 Beschäftigte) „... keine linientypischen OV/OPK (Überwachungsvorgänge, d. Red.) bearbeitet“ wurden. Dennoch: Zwei ehemalige Beschäftigte des Atomkraftwerks, wird weiter mitgeteilt, wurden wegen ihrer Antragstellung auf Ausreise und „politisch-operativer bedeutsamer Anhaltspunkte“ überwacht. Die Angst der Stasi: „Bedeutsame Informationen“ könnten „abfließen“. Als operativ bedeutsam werden einzig die Aktivitäten eines Pfarrers bezeichnet, der „über eine Berliner Deckadresse“ eine Studie der Gruppe Ökologie Hannover im Auftrag von Greenpeace erhalten hatte. Die Abwehrmaßnahme der Stasi bestand in der Postüberwachung durch die Bezirksverwaltung Potsdam.

Mit dem Ziel der Abschottung der Beschäftigten sollten zuallererst die privaten Westkontakte der Mitarbeiter eingedämmt werden – in der Praxis kaum zu realisieren. Zwischen 1975 und 1987, so schreibt beispielsweise der Chef der Kreisdienststelle, wurden wegen dringender Familienangelegenheiten 26 Reisen von Atomkraftwerks-Angestellten ins westliche Ausland registriert („davon sind drei Personen im aktiven Teil beschäftigt“). „Hinzu kommt, daß derzeit weitere zehn Anträge auf Reisen in dringenden Familienangelegenheiten im Betrieb zur Bestätigung vorliegen.“ Einzudämmen waren die Westkontakte nicht. Um so umfangreicher wurden die Sicherheitsüberprüfungen. Bei 45 Bestätigten für „Vertrauliche Verschlußsachen“ und elf Bestätigten für „Geheime Verschlußsachen“ lagen insgesamt 29 Kontaktmeldungen von Geheimnisträgern in das „nichtsozialistische Ausland“ vor. Schlußfolgerung der Stasi: Klärung der Frage „Wer ist wer?“ und Analyse des Einreise- und Besucherverkehrs im Raum Rheinsberg.

Genutzt hatte es nichts. Trotz aller Sicherungsmaßnahmen wäre der Fall der Fälle – ein möglicher Austritt radioaktiver Teilchen – wegen unzureichender Sicherheitsmaßnahmen verheerend gewesen. So sei, listet die zuständige Stasi-Abteilung 1987 auf, gegenwärtig „kein geschützter Führungspunkt auf dem Gelände des KKW vorhanden“, der Ausweichstützpunkt in Rheinsberg unzureichend, die Feuerwehr bei der Brandbekämpfung mit radioaktiver Strahlung nicht geschult.

Doch die schlimmsten Schwachstellen lassen das Chaos bei einer Katastrophe nur erahnen. Die Kapazitäten im medizinischen Bereich des Kreises Neuruppin würden, so klagt die Stasi, bei weitem nicht ausreichen. Sofort bereitstellbar seien 149 Krankenbetten, 360 nach besonderer Umstellung. Die Warnung der Bevölkerung im Gefährdungsraum sei noch nicht gesichert.

Und dann das: Es bestehen keine konkreten „Koordinierungsvereinbarungen mit den Organen des Bezirkes Neubrandenburg bezüglich Havarievorsorge und -bekämpfung“. Im Klartext: An der Bezirksgrenze wäre mit der Zusammenarbeit Schluß gewesen.

12.500 Geschädigte von der Stasi eingeplant

Für den ungünstigsten Fall der Strahlungsausbreitung wurden im 15-Kilometer-Radius mehr als 1.000 Rem angenommen. Totalausfall der Schilddrüse bis 40 Kilometer, äußere Belastung bis cirka 40 Kilometer. „Die aufgeführten Passagen gelten für Personen im Freien.“ Ungünstige Ergebnisse auch bei ungünstigster Windrichtung: 12.500 Geschädigte, kam die Stasi zu dem Schluß, müßten wohl eingeplant werden.

Dazu kann es nicht mehr kommen. 1990 abgeschaltet, wird das Atomkraftwerk derzeit abgebaut. Für Frohmut Pietsch, den Öffentlichkeitsarbeiter, den es inzwischen im Atomkraftwerk gibt, „eine Riesenaufgabe“. Rheinsberg, mit knapp 300 Beschäftigten noch immer größter Arbeitgeber der Region, „soll bis etwa 2009 rückgebaut“ sein. „Das ist der Wille der Bevölkerung.“ Jens Schmidt

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