: Gepflegte Legenden: Der Große Vaterländische Krieg
Der Kreml nutzt die Erinnerung an den Krieg zur Stabilisierung seiner Macht ■ Von Klaus-Helge Donath
Moskau putzt sich raus. Es wird gesäubert und gewienert, geharkt und begradigt, errichtet und beseitigt. Die Stadt verliert ihr schmuddeliges Alltagskleid. Legionen von Arbeitern und Soldaten schuften rund um die Uhr. Selbst dem Aufruf zum leninschen Subbotnik, einem unbezahlten Arbeitstag im Dienste der Gemeinschaft, folgten einige ältere Leute. Geworben hatte Moskaus Bürgermeister Luschkow, der eigentliche Regisseur hinter den Kulissen der 50jährigen Siegesfeier.
In einem Kraftakt läßt er noch in letzter Minute Berge versetzen. Bis zum 9. Mai soll das riesige Areal am „poklonnaja gora“ – dem Hügel der Verneigung – in hellem Glanze erstrahlen. Der Ort, an Moskaus westlicher Stadtausfahrt gelegen, beherbergt die Gedenkstätte des Großen Vaterländischen Krieges. Eine Planung, die noch in die siebziger Jahre zurückreicht, aus Geldmangel und erschlaffendem Patriotismus dann Jahre der Vernachlässigung über sich ergehen lassen mußte. Die Zeiten der Perestroika ließen es nicht opportun erscheinen, diesen kostspieligen Komplex des Martialismus zu Ende zu bauen. Statt Kriegsverherrlichung im Sozrealismus waren Westöffnung und Modernisierungsschub angesagt.
Das Jubiläum bietet allen Anlaß, um es gebührend zu begehen. Bescheidenheit kann man an diesem Tag nicht erwarten. Und doch mischt sich ein eigenartiges Gefühl bei. Kraftakt, Anstrengung und Mühsal erinnern an die kollektive Geißel, an die Mammutprojekte der Sowjetzeit, die alle Maße sprengten und dem Menschen sein Maß nahmen. Selbst die turnusmäßige Begehung der Baustelle, die sich leitende Politiker nicht nehmen lassen, erinnert an das Gestern. Die strahlenden Gesichter und ihr tatendurstiger Gang! Alte Wochenschauen ...
Andererseits bedrückt das Wissen, Glanz und Gloria werden gerade mal den Tag selbst überstehen. Danach versinkt die Stadt wieder in ihrer Lotterlichkeit, die keinen Sinn für Vollkommenheit duldet. Und die Veteranen, um die es geht, die sich bei den Proben im Paradeschritt quälen, werden wieder der Gleichgültigkeit überlassen. Wie es immer war. Und dann noch dies: Veteranen werden in neue Uniformen gestopft, deren Stoff der ehemalige Feind liefert. Viele haben sich geweigert. Ein Mindestmaß an Anstand sollte gewahrt bleiben. Versöhnung ließe sich notfalls anders demonstrieren. Der Hang, sich der Außenwelt von einer Seite zu zeigen, die nicht dem Wesen entspricht, überschattet das Ereignis und entwertet es. Etwas Sinnbildliches. Bei dem Versuch, die Fiktion aufrechtzuerhalten, klappt alles wie am Schnürchen. Wäre es nur im Alltag so.
Selbstverständlich vergaß man auf dem Gedächtnisgelände auch eine orthodoxe Kirche nicht. Sie wuchs in Rekordzeit aus dem Boden, in kaum mehr als einem Monat. In letzter Zeit trifft man die Kirche überall dort an, wo es um die Wiedererschaffung des wahren russischen Geistes geht. Ihre Priester segnen in die Schlacht ziehende Soldaten ganz wie in zaristischen Zeiten. Zwar ist der Feldzug in Tschetschenien nach offizieller Lesart kein Glaubenskrieg, doch fällt es niederen Würdenträgern scheinbar nicht leicht, den Feind nur als Gegner zu betrachten.
Rußlands Schwierigkeiten, den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbau voranzutreiben, haben im Laufe des letzten Jahres dem Militär und der Lobby des militärisch-industriellen Komplexes erheblichen Auftrieg verschafft. Die Abkehr vom Kurs einer vorbehaltlosen Politik gegenüber dem Westen, die Verletzung von Menschenrechten und Verstöße gegen internationale Vereinbarungen, all das sind augenfällige Momente, die die russische Suche nach einem eigenständigen Weg belegen, der sich westlichen Universalismen nicht mehr ungeprüft verschreibt.
Immer häufiger werden Einkreisungsphobien mobilisiert und alte Verschwörungstheorien hervorgekramt. Westlichen Kapitalgebern wird unterstellt, sie trieben subversive Machenschaften, um „Verteidigungsfähigkeit und Wirtschaft des Landes zu unterhöhlen“. Ziel westlicher Strategie sei es, den „technologischen Rückstand Rußlands zu gewährleisten“.
Aus diesen hilflosen und landläufig bekannten Vorwürfen spricht die Angst, erneut den in Angriff genommenen Modernisierungsschub nicht zu schaffen. Sie tragen kompensatorischen Charakter und traten bei jedem Versuch in Rußland auf, Staat und Gesellschaft umzustrukturieren. Die UdSSR war ein militaristischer Staat mit vier Millionen Menschen unter Waffen und einer gigantischen Industrie, die zu über 60 Prozent die Rüstung bediente. Veränderungen müssen zwangsläufig zu Verwerfungen führen.
Die Gesellschaft steigt hingegen auf die Uminterpretation des Kremls nicht bedingungslos ein, obwohl weite Teile nach Identifikationsmustern oder irgendeinem Halt suchen. Der Vorstoß, über den Tschetschenienkrieg den Patriotismus anzukurbeln, die Armee aufzuwerten und eine schleichende Remilitarisierung zu vollziehen, hat bei den Menschen nicht verfangen. Im Gegenteil.
Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes und der Selbstentlarvung der Propagandalüge vom glücklichen Sowjetvolk blieb nur der Sieg über den Hitlerfaschismus als einzig positives Moment der jüngeren Geschichte erhalten. Der 9. Mai war immer sakrosankt. Veteranen, die in ihren ordensbestickten Brüsten aufmarschierten, genossen lange Zeit Autorität auch bei der Jugend. Bis heute wird ihnen in öffentlichen Einrichtungen und Geschäften Vortritt gewährt.
Doch in den letzten Jahren haben sie an Bedeutung eingebüßt. Veteranen blieben meist unter sich. Ein richtiger Volksfestcharakter wollte sich nicht mehr einstellen. Die Jugend blickt nach vorn. Das fünfzigjährige Jubiläum ist selbstverständlich ein besonderer Anlaß. Ob sich dieses Datum nutzen läßt, um die Verbundenheit zwischen „Volk und Armee“ wiederherzustellen, wie es die alte Propaganda unaufhörlich reklamierte, ist mehr als fraglich.
Großes Mitleid hat die Armee von der Bevölkerung nicht zu erwarten. Früher saß sie an den reichhaltig gefüllten Futternäpfen, genoß ausreichend Privilegien und konnte in Spezialgeschäften einkaufen. All das war dem einfachen Menschen verwehrt. Bis heute hat man das nicht vergessen. Schon bei den Ausgaben für das Kriegsmemorial und den viertausend neuen Uniformen, die für die Veteranenparade aus besten Stoffen geschneidert werden, scheiden sich die Geister. Die Fahnenstange des Patriotismus ist erreicht.
Zurückhaltung gegenüber der Armee und Ablehnung des Tschetschenienkrieges dürfen allerdings nicht als Ausdruck wachsenden Pazifismus in der russischen Gesellschaft gewertet werden. Nach wie vor geht man unkritisch mit dem Einsatz von Gewalt um, Kinder werden üppig mit Kriegsspielzeug beschenkt. Eine Antikriegserziehung kennt man in Rußland noch nicht. Dazu hat zweifelsohne der Überfall Deutschlands auf Rußland beigetragen. Verteidigungsleistung und Sieg dürfen nicht gemindert werden. Genauso wenig wie man die „eigentliche Stärke und Schlagfertigkeit der Armee“ heute nicht ungestraft in Zweifel ziehen kann. Bei aller Kritik und Distanz.
Zwei Ebenen der Realität liegen vor. Legende und Mythos aus der Stalinzeit wirken im Unterbewußten fort. Die Lehrpläne in den Schulen sperren sich gegen Korrekturen, die den Großen Vaterländischen Krieg mit den Tatsachen in Übereinklang brächten.
Noch immer beginnt für die Russen der Krieg im Juni 1941. Die Annexion der baltischen Staaten wird tabuisiert, ähnlich wie der mißlungene Überfall auf Finnland zu Kriegsbeginn. Völlig aus dem Blickwinkel gerät der imperialistische Charakter, den dieser Krieg die Tradition des zaristischen Rußlands fortsetzend zu Beginn und Ende spielte. Der verbrecherische Kuhhandel und Einmarsch in Polen der späteren Gegner bleibt selbst für Abiturienten ein Geheimnis. Nicht nur Generäle und Marschälle widersetzen sich einer wahrheitsgetreuen Aufarbeitung. Auch reformfreudigere Kräfte wollen den Mythos des Krieges, das einzige Bindeglied, nicht unvorsichtig kappen.
In der Interpretation des Krieges offenbart sich die Spaltung der russischen Gesellschaft bis auf den Tag. Viele Veteranen verbinden den Sieg mit der Führungsrolle der Partei, einige sogar mit dem „Generalissimus“ Wissarionowitsch Stalin, dessen feldherrliche Fähigkeiten heute immerhin im Rahmen eines menschlichen Maßes bewertet werden. Obwohl fast jeder Erlebnisse hatte, die gerade deren Verdienste schmälern müßten.
Bei der Diskussion hierüber schlagen die Emotionen jedes Mal hoch. Als könne eine kritische Bestandsaufnahme oder selbst nur ein Wort die Leistung des Sieges mindern. In der Hochphase der Perestroika gab es Momente, da der Vaterländische Krieg in den Strudel ungerechtfertigter Kritik geraten zu schien. Diese Phase war von kurzer Dauer.
Gemeinhin wird behauptet, Hitlers Vernichtungskrieg hätte das Stalinregime gestärkt, wenn nicht gar zementiert. Doch die vehemente Abwehr, negative Seiten des Krieges zu beachten, könnte auch einem anderen Impuls entstammen. Selbst wer Partei und Führung den Sieg zuspricht, hegt doch noch ein anderes, wichtigeres Gefühl: Es war das „Volk“, das die Schlacht entschied. Und das freiwillig in einem System, das die Menschen mit dem Leben bedrohte. „Die von allen geliebte Partei und ihre Führung hat dem Sowjetvolk geschenkt ...“, diesen Zyklus hat der Krieg durchbrochen und den Menschen ein Selbstwertgefühl zurückgegeben. Sie konnten und mußten sich beweisen, ohne einen Befehl der Parteileitung. Folglich kehrten sie auch nicht mehr als dieselben zurück.
Die historische Faktizität rückt zwangsläufig angesichts der sozialpsychologischen Bedeutung des Krieges in den Hintergrund. Wie unwichtig erscheinen da Marginalien wie der Japanfeldzug, dessen Verlauf kaum einer kennt. Bis in die Gegenwart belastet er das Verhältnis zum östlichen Nachbarn.
In der öffentlichen Diskussion wird der Wunsch Japans auf Rückgabe der Kurileninseln wie ein heißes Eisen behandelt. Grundtenor des nationalistischen Diskurses: Mit unserm Blut getränkte Erde dürfen wir nicht kostenlos zurückgeben. Die UdSSR eröffnete den Krieg gegen Japan im August 1945. Nachdem zwei Atombomben auf Hiroshima gefallen waren. Sie besetzte Inseln, die niemals zu Rußland gehörten. Obwohl sich der Inselstaat selbst 1941/42 – während der verheerendsten Niederlagen der Roten Armee – strikt an den Nichtangriffspakt gehalten hatte. Gleichzeitig schickte Stalin seine Armeen in die Mandschurai und nach Nordkorea.
Eine Aufarbeitung dürfte auch das Schicksal der fünf Millionen Kriegsgefangenen und Fremdarbeiter in Deutschland nicht verschweigen, die nach ihrer Rückkehr in stalinistischen Lagern landeten und als Bürger zweiter Klasse behandelt wurden. Erst kürzlich erfolgte klammheimlich ihre offizielle Rehabilitierung. Die zahlreichen Völker, deportiert und dezimiert unter dem Vorwand, mit dem Feind zu kollaborieren, markieren die menschenverachtende Seite nach innen.
Den Faschismus niederzuringen, relativierte und rechtfertigte Verbrechen gegen die eigenen Völker. Im nachhinein förderte es nicht die Sensibilität der Russen im Umgang mit anderen Ethnien. Allzu leicht konnte Rassismus und koloniale Attitüde ex post facto dem stalinistischen System alleine zugeschoben werden. Eine öffentliche Auseinandersetzung, die dergleichen thematisierte, blieb bisher aus. Der Kaukasus ist brennender Beweis.
Das Imago des unbefleckten Opfers soll erhalten bleiben. Die kolossalen Verluste der Russen, drei bis viermal höher als die des Gegners, gehören zu wohlgehüteten Geheimnissen. Erst die Opfer der eigenen Truppen in Tschetschenien riefen dieses Kapitel wieder wach: der Soldat als Kanonenfutter. Rußlands Öffentlichkeit schaut weg – damals wie heute.
Noch braucht sie diese Mythen. Ihr Selbstwertgefühl hat in den letzten Jahren zu viele Kränkungen erfahren. Vielleicht wird man sich nie von den Legenden verabschieden. Der Sieger hat keinen zwingenden Grund, wenn es nicht einmal dem Aggressor und Verlierer Deutschland einfällt, sich seiner Geschichte schonungslos zu stellen. Kollektiv bewältigt heißt nicht verarbeitet.
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