■ Gedanken zur Metropole
: Die Labore der Anpassung

Man könnte sagen, daß erst die Migration die großen Städte wie Paris, London und Berlin zu dem gemacht hat, was sie heute sind, Metropolen. Denn in Folge der Migration entstanden in diesen Ballungszentren jene Unterschiede im Lebensstil in der Kultur, ohne die eine Metropole undenkbar wäre. Diese Unterschiede bedeuten eine Herausforderung nicht nur für die Migranten, sondern auch für die Einheimischen.

Den Gegnern multikulturellen Lebens sind Metropolen – diese „Wasserköpfe der Zivilisation“, wie sie der konservative deutsche Sozialwissenschaftler Wilhelm Heinrich Riehl Mitte des 19. Jahrhunderts nannte – immer ein Dorn im Auge. Nach ihrer Interpretation wird an diesen Orten Heimatverlust und Entfremdung erfahren.

Die Nazis liebten in der Kunst die Darstellung von gesundem bäuerlichem Leben und von der Familie im Glückszustand. Auch die Großstädte wurden unter ihrer Herrschaft in Blöcke parzelliert, überschaubar und beherrschbar gemacht. Der pauschalen Verurteilung von der Metropole als Ort des Verlusts von Identität und Ordnung, als Brandherde des Chaos und der Unregierbarkeit liegt oft eine Machtstrategie zugrunde, die der Demokratie und vor allem dem Pluralismus grundsätzlich feindlich gesonnen ist.

Man übersieht bewußt die Überlebensstrategien der Traditionen in solchen Gebilden. Denn anders als in dünnbesiedelten Regionen findet der Fremde in der Metropole fast immer einen Unterschlupf, ein Versteck, eine Nische, wo er relativ unbeobachtet und unbeachtet seinen eigenen Lebensstil entwickeln kann. Die Stadt bietet ihm ökonomische Chancen. Die Stärkung seiner Wirtschaftskraft drückt sich in der Veränderung von Konsumgewohnheiten aus. Nach ein oder zwei Generationen werden aus den Menschen, die aus der Provinz kamen, Menschen der Metropole.

Dieser Vorgang wird von Konflikten begleitet, die in den Sozialwissenschaften gerne mit dem Begriff Kulturkonflikte umschrieben werden. Doch auch der Begriff der Kultur ist eine Pauschalisierung. Man versucht, die einzelnen Schicksale in sogenannten Kulturkreisen zusammenzufassen, und kann deshalb die für jede Metropole spezifische und die für jede ihrer Bewohner spezifische Entwicklung nicht erfassen. Die kulturellen Hintergründe der einzelnen sind in der Metropole Veränderungen ausgesetzt, deren Beschreibung einen nichtstatischen Kulturbegriff voraussetzt. Dabei muß jenes polarisierende Denken, das Stadt und Land, Fortschritt und Rückschritt, Zentrum und Peripherie als unüberbrückbare Gegensätze gegenüberstellt, überwunden werden.

Denn was die Metropole als Metropole ausmacht, ist die Verschränkung dieser Gegensätze, ist das ambivalente Verhalten ihrer Bewohner gegenüber diesen Gegensätzen. Jede Metropole ist Enge und Weite zugleich. Eine konkrete Enge, vorgegeben durch den beschränkten Wohnraum, durch überfüllte Straßen und Plätze, durch das engmaschige Kommunikationsnetz, doch zugleich eine abstrakte Weite, die durch das Mosaik der unterschiedlichen Kulturen das Weite naherückt – das Disparate zusammenfügt, dabei potenzieren sich die erfahrene Enge und Weite gegenseitig und führen zu einem neuen Lebensrhythmus.

Vor allem die neue Musik aus den Metropolen wie Rap und HipHop entstanden aus diesem Rhythmus mit seiner eigenen Geschwindigkeit. Diese Musik ist deshalb besonders erfolgreich, weil sie das Lebensgefühl auf dem Asphalt so unterschiedlicher Metropolen wie New York, London und Berlin trifft und verbindet. Die Lebenszusammenhänge in den Metropolen bringen die Ordnungen der Zugehörigkeit und überlieferter Heimatkonzepte durcheinander.

Deshalb sind Metropolen in den Augen konservativer Denker gefährliche Orte. Es findet in ihnen jene Vermischung statt, in der sie nur die Konfliktpotentiale sehen, die sich vor allem in einer hohen Kriminalitätsrate ausdrücken. Doch solches Denken, das in jeder Vermischung eine Verunreinigung entdeckt, richtet seinen Haß auch auf kulturelle Metropolen wie Sarajevo, wo Menschen unterschiedlichen religiösen Glaubens jahrhundertelang friedlich und kreativ zusammengelebt haben.

Sind es aber nicht auch dieselben Metropoplen, die den Menschen, die durch die Veränderungen verunsichert sind, das Leben in sogenannten Ghettos ermöglichen? Wie läßt sich erklären, daß ein Stadtteil Berlins, nämlich Kreuzberg, im Volksmund Klein-Istanbul genannt wird? Vielleicht wäre sogar Klein-Erzurum, Klein-Sivas oder Klein-Kayseri treffender, wenn man die Herkunft der Menschen, die hier leben, etwas genauer berücksichtigen würde.

Unter den Jugendlichen, die sich für die Klänge von Rap und HipHop nicht begeistern, werden hier traditionelle türkische Musik und Tänze gepflegt. Man besucht regelmäßig Moscheen und ist frommer als in der Türkei. Doch diejenigen, die für die Konservierung eigener, zum Beispiel deutscher, Heimatgefühle eintreten, möchten sie den Fremden nicht billigen. Von Türkenghettos ist die Rede, von Menschen, die nicht anpassungsfähig sind oder nicht anpassungswillig.

Doch wer in nordamerikanischen Metropolen wie in Toronto oder New York alte jüdische, griechische oder italienische Viertel besucht und dort heute auf Chinesen oder Puertoricaner trifft, weiß, daß Ghettos oft Durchgangsstationen sind. Sie sind Labore schleichender Anpassung, mit vielen Reaktionen und Gegenreaktionen, doch fast immer zu energiegeladen, um auf Dauer zu erstarren. Mobilität und Identitätswandel machen in Einwanderungsgesellschaften die Migranten zu einer dynamischen Bevölkerungsgruppe. Zafer Șenocak