: Ein Koalitionsangebot fürs 21. Jahrhundert
■ Gregor Gysi und Jürgen Trittin haben sich beim Streit auf der Volksuni nicht weh getan
Worüber könnten Politiker von Bündnis 90/Die Grünen und von der PDS nicht alles spannend streiten? Über Vergangenheitsaufarbeitung zum Beispiel oder über die Militarisierung der deutschen Außenpoliitk, über große Sorgen mit der eigenen Parteibasis oder das rau(h)e Klima bei der Suche nach neuen gesellschaftlichen Mehrheiten. Doch die Herren Gregor Gysi und Jürgen Trittin hatten versprochen, Wahlkampf zu vermeiden und über tagespolitische Fragen nicht zu sprechen.
Der „Politik für das 21. Jahrhundert“, so sah es das Programm der Volksuni für diesen Samstag vormittag vor, sollten sich der Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen und der Vorsitzende der PDS- Bundestagsgruppe statt dessen widmen. Und der Frage „Sind Sozialismus, Ökologie und Liberalität vereinbar?“ Kein Wort also zum neuesten Gauck-Gutachten über IM „Notar“, kein Wort zum Streit der Grünen über Militäreinsätze in Bosnien. Statt dessen verloren sich beide Politiker in Visionen, und, um es vorwegzunehmen, rein visionär gesehen verstanden sie sich prächtig. Folgt man Trittin und Gysi, stünde der Zusammenarbeit zwischen Roten und Grünen nichts mehr im Wege.
„Wir leben in Zeiten der Barbarei“, stellte Jürgen Trittin gleich zu Beginn fest, schließlich sei nur sie übriggeblieben. Nun gelte es, Alternativen zur Barbarei zu entwickeln, die sich „unter der globalen Herrschaft des Kapitals“ ausgebreitet habe. Die neue Antithese habe vier Eckpunkte: Ökologie, Solidarität, Feminismus und Frieden. Atomkraftwerke abschalten, die Unterschiede zwischen Arm und Reich verringern, die Unterdrückung der Frau beenden, die Spirale der Gewalt brechen: wer kann dazu schon nein sagen?
Gregor Gysi hatte wenig einzuwenden, mahnte lediglich, die ökologische Frage nicht durch soziale Ausgrenzung lösen zu wollen. Denn wer den Benzinpreis auf 5 Mark erhöhen wolle, um den privaten Autoverkehr zu reduzieren, betreibe Umweltschutz durch die Schaffung von Privilegien. Also müßten die soziale und die ökonomische Frage miteinander verknüpft werden. Aber wie? Da war auch der PDS-Politiker ratlos: „Wir stehen vor Bergen von Problemen, aber ich hab' da keine Lösung.“ Natürlich hat auch der PDS- Politiker inzwischen gelernt, daß gesellschaftliche Veränderungen nur im Bündnis zu schaffen sind, mit Bündnissen in der Gesellschaft und zwischen den Parteien. Die PDS könne doch machen, was sie wolle, als Ökologie-Partei werde sie sich nie profilieren, so Gysi. Den Ball griff Trittin lustvoll auf: „Für den Sozialismus ist Gregor Gysi zuständig.“ Fast ein Koalitionsangebot fürs 21. Jahrhundert.
In den politischen Phrasen sind die Dinge immer so einfach, vor allem wenn sich die Politiker im Schönreden produzieren. Erörterbar werden die Dinge erst im Konkreten: Lohnt es sich, um Arbeitsplätze zu kämpfen, solange Kali die Flüsse versalzt oder Braunkohle als Brennstoff die Luft verpestet? Darf man der politischen Macht wegen pazifistische Grundsätze aufgeben, oder kann man glaubhaft für die Liberalität streiten, solange man die eigene Geschichte verklärt? Die Politik für das 21. Jahrhundert beginnt heute und nicht am Sankt-Nimmerleins- Tag. Christoph Seils
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