Einen Propagandisten geehrt

Emir Kusturicas Jugoslawien-Filmepos „Underground“, gerade eben in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet, illustriert den Diskurs der „Großserben“, findet jedenfalls  ■ Alain Finkielkraut

Kleiner Nachtrag zu Cannes: Noch immer wird die Verleihung der Goldenen Palme an Emir Kusturicas dreistündiges Jugoslawien- Epos „Underground“ in der französischen Presse diskutiert. Umstritten ist nicht nur die aus aneinandergereihten Knalleffekten bestehende Bauweise des Films, sondern auch die durch alles Chaos hindurch lancierte These, die Deutschen seien (noch immer) Schuld am Untergang einer stolzen Nation, deren einzige Rettung in der Wiedervereinigung unter serbischer Hoheit läge.

Der französische Philosoph Alain Finkielkraut setzt sich, wie viele seiner Kollegen, schon lange für die Sache der bosnischen Muslime ein.(mn)

Das Publikum, das „Underground“– Emir Kusturicas großes Fresko über 50 Jahre jugoslawischer Geschichte – stehende Ovationen gab, und die Jury, die ihm die Goldene Palme des Festivals von Cannes verlieh, haben zweifellos den Eindruck gehabt, sie könnten hier zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Im selben Atemzug, in dem sie einen Künstler feiern, der bereits alle äußeren Attribute eines Genies aufweist, demonstrieren sie ihre Entrüstung angesichts des Gemetzels in Tuzla und ihre Solidarität mit den Opfern des Krieges.

Um mit dem Autor zu sprechen: „Underground“ ist vor allem ein nostalgischer Abschied von Jugoslawien. „Es war einmal ein Land“ heißt es im Untertitel unumwunden. Und nach Kusturicas Auffassung sind für die Zerstörung dieses Landes nicht diejenigen verantwortlich, die seit der Besetzung des Kosovo die Absicht bekundet haben, ein „Serboslawien“ aus ihm zu machen. Die Schuld liegt für ihn voll und ganz bei den Nationen, die die Unabhängigkeit gewählt haben, um ihrem angekündigten kulturellen Tod zu entgehen.

Im Oktober 1991, das heißt in den ersten Monaten des Konflikts, schrieb Kusturica: „Es gibt eine ganze Menge Dinge, die ich als Kind noch nicht wußte. Jetzt weiß ich sie. Slowenien hat immer seinen slowenischen Traum geträumt, den Traum des österreichischen Schildknappen. Aber es sind unsere Vorfahren, die eben jenes Slowenien im Ersten Weltkrieg vor der Scheiße aus Wien bewahrt haben“ (Libération, 21. Oktober 1991).

Vier Jahre, viele tausend Tote und einige „Urbizide“ später erhärtet und präzisiert Kusturica seine damaligen Äußerungen: „Die Archivaufnahmen, die man in dem Film sieht, zeigen den Einmarsch der Nazitruppen in Slowenien, wo sie empfangen werden, als wären sie dort zu Hause [...] So ist es noch heute. Slowenien ist schon damals als germanischer Vorposten in der orthodoxen Welt verstanden worden [...] Später marschieren sie in Zagreb ein, wo dasselbe passiert. Aber als sie nach Belgrad kommen, sieht man niemanden auf den Straßen [...], hier sind sie wirklich auf fremdem Gebiet.“

Empört über die Unterstützung, die einige Intellektuelle dem brennenden Bosnien zukommen ließen, schließt Kusturica: „Man muß schon ziemlich blöd sein, nicht begreifen zu wollen, daß der Fall der Mauer diese ohnehin instabilen kleinen Länder völlig verwandelt hat, vor allem die kleinen Satellitenstaaten der Nazis, wie Slowenien, Kroatien, Ungarn [...] und Bosnien! Es gibt eine völlig blödsinnige Bezeichnung, die man im Moment überall hört, nämlich „Großserbien“. Wie kann man ein Land von neun Millionen Einwohnern als „groß“ bezeichnen? Gleichzeitig gibt es ein vereintes Deutschland mit achtzig Millionen Einwohnern, das nun wirklich groß ist, und niemand kommt auf die Idee, es „Großdeutschland“ zu nennen“ (Cahiers du cinéma, Juni 1995).

Die „Nazifikation“ der Opfer ethnischer Säuberungen, die Denunziation des Landes als IV. Reich, die Verteidigung des serbischen David in seinem heroischen Kampf gegen den germanischen Goliath, die Überdeckung aller derzeit täglich begangenen Verbrechen durch Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg – was Kusturica da in Wort und in Bild gefaßt hat, ist derselbe Diskurs, den die Mörder benutzten, um andere und sich selbst davon zu überzeugen, daß sie aus einer völlig legitimen Verteidigungsposition heraus operieren, weil sie es mit einem allmächtigen Gegner zu tun haben. Der Filmemacher hat also das Leiden Sarajevos ausgenutzt, indem er sich vollständig die stereotype Argumentation der Blutsauger und Belagerer der Stadt zu eigen macht. Er verkörpert die Hinrichtung Bosniens auch dadurch, daß er es ablehnt, sich als Bosnier zu bezeichnen. Auch verfällt er in heiligen Zorn, wenn man es wagt, Slobodan Milošević einen Faschisten oder die Serben Aggressoren zu nennen.

Mit der Preisverleihung an „Underground“ hat die Jury von Cannes geglaubt, einen Künstler von unerschöpflicher Fantasie auszuzeichnen. In Wahrheit hat sie einen beflissenen Illustrator plakativer, krimineller Klischees geehrt. Er hat die postmoderne, kopflose, amerikanisierte Version, die verlogenste und geschwätzigste Variante serbischer Propaganda in Belgrad gedreht. Der Teufel selbst hätte sich keine so grausame Unverschämtheit gegenüber Bosnien ausdenken können, gar nicht zu reden von einem derart grotesken und frivolen Epilog auf die Inkompetenz des Westens.

Übersetzung aus dem Französischen von Mariam Niroumand