piwik no script img

Die Heiterkeit des großen Faltenwurfs

Sie kommen täglich, bleiben nachts, betasten den Stoff und wickeln sich ein, fotografieren und feiern wechselndes Licht und wechselnde Schatten: Hunderttausende am verhüllten Reichstag  ■ Aus Berlin Anita Kugler

Hoch auf dem Turm des Reichstags, dem zwischem dem West- und Ostportal, wohnte ein Turmfalke. Bauarbeiter endeckten den Horst, als sie das Gebäude vor anderthalb Jahren auf Asbestspuren untersuchten. Bevor Christo es verhüllen durfte, mußte er deshalb ein ornithologisches Problem lösen. Wohnte der auf allen Roten Listen verzeichnete Raubvogel überhaupt noch dort? Vier Wochen lang bezahlten die Christos einen Vogelkundler, der mit Fernglas Tag und Nacht das Terrain im Auge behielt. Und tatsächlich, der Falke flog den Turm an und ab. Das Ende vom Lied war, daß dem artengeschützten Flieger in einem der noch unrestaurierten Altbauten in der Nähe ein nach allen Regeln der Falknerei neuer Horst gebaut wurde. Unglücklicherweise koteten diesen aber sofort die Tauben ein – weshalb der Raubvogel ihn nicht beziehen wollte. Christo- Verhüller beobachteten später, wie der Falke ab und zu um den Reichstag segelte und Dohlen angriff. Angeblich soll er jetzt einen Schlafplatz auf dem Gelände der alten Charité gefunden haben. Mit Sicherheit aber ist der Turmfalke sehr beleidigt und wird es auch nach der Enthüllung bleiben. Denn wenn Christo und Jeanne- Claude am 6. Juli gehen, kommen andere, um den Reichstag bis 1999 zum deutschen Parlamentssitz umzurüsten.

* * *

Seit vergangenem Freitag ist der Reichstag die Mitte von Berlin. Das war er zum letzten Mal bei den großen Demonstrationen zur Blockadezeit. Aber jetzt ist die Stimmung heiter, und die Menschen, die mit Kind, Kegel und Hund kommen, benehmen sich, als ob sie sich alle mögen. Man kommt schnell miteinander ins Gespräch in diesen kurzen Christo-Tagen. Es herrscht Ausnahmezustand, ein Zustand, der so vergänglich ist wie diese Kunst. Am Wochenende fanden sich insgesamt eine knappe Million Freunde und Freundinnen vor dem Reichstag ein, seit gestern täglich etwa dreihunderttausend. In der lauen Sommernacht von Sonnabend auf Sonntag übernachteten Tausende auf dem bis zur Grasnarbe abgetrampelten Rasen, erzählt einer der freundlichen Verhüllungsbewacher und Erklärer. Die Christos wollen sie partout „Monitore“ genannt wissen. Die letzten Besucher gehen nachts um zwei, und die ersten kommen morgens um vier. „Ungemütlich“ sei der große Ansturm aber nur während der Schichtwechsel um 5, 11, 17 und 23 Uhr. Da bekommen die Helfer jeweils einen Sack voll zentimetergroßer Stoffpröbchen zum Verteilen, und die Leute drängen sich um sie. Eine Million Quadrate sind zum Verschenken da, aber nur 80.000 täglich.

* * *

Es gibt Trophäensammler, die nicht ihren Charme, sondern ihre Messer einsetzen. Vorgestern schnitt jemand ein handtellergroßes Loch in den Silberstoff, und gestern versuchte es ein anderer. Auch den Brandpfeil, der am Sonnabend abgefeuert wurde, aber keinen ernsthaften Schaden anrichtete, erwähnt die Presseabteilung von „Verhüllter Reichstag GmbH“ nur ungern. Die Zeitungsverkäuferin am S-Bahnhof Unter den Linden sagt, daß sie bei solchen Vandalen zur „Mörderin“ werden könnte.

* * *

Unter den Menschen die zum Reichstag pilgern, gibt es viele, die geradezu abhängig geworden sind und deshalb täglich kommen. Darunter finden sich auch Konvertiten, die das ganze Spektakel vorher nur als parasitäre, weil überflüssige Gigantmanie, bestenfalls als Kunsthandwerk begreifen konnten. Jetzt sind sie süchtig nach den verschwenderisch ausgebreiteten hunderttausend Quadratmetern Silbergewebe über dem sonst so unattraktiven Klotz, nach diesem eiskalt schimmernden Polargebirge am Morgen und dem warm leuchtenden Berg in der Abendsonne, nach der Schönheit des Faltenwurfs, nach den Schatten, die der wechselnde Lichteinfall immer wieder anders wirft, nach dem schweren Stoff, der in der Hand etwas kratzt, aber über den Mauern so leicht hängt wie ein Nachthemd auf der Leine. Und sie sind süchtig nach dem ganzen Drumherum, diesem Woodstock-Feeling, nach diesem Jahrmarkt, diesem Marathon-Happening.

* * *

Rund um den Reichstag geben sich Selbstdarsteller aus aller Welt die Ehre: der kahlrasierte amerikanische Einradfahrer, der während des Balancierens mit Feuerstäben jongliert und nebenbei noch singt; der rastalockige Feuerschlucker, dessen Akrobatik von einem ganzen Trupp Trommler begleitet wird; die wunderbare Akkordeonspielerin aus Sibirien und ihr melancholischer Gesang; der blonde Didgeridoo-Bläser, der für die Kleinen auch mal Hänschenklein im Stil der Aborigines tutet; die weißverhüllte Braut mit Rosen in der Hand und einem Schnabel im Gesicht, ein vergoldeter Thälmann, zwei Charlie Chaplins und und und ...

* * *

Zu den One-man-Shows gehört auch die von Martin von Ostrowski, der überall dort, wo Kunst zu besichtigen ist – gleich ob Biennale oder Reichstag – gegen diese demonstriert. Zum aktuellen Ereignis hat er seine Weste goldfarben angestrichen, sie korrespondiert wunderbar mit dem silberleuchtenden Christo-Stoff. Fotogen stellt er sich täglich und bis er heiser wird auf die Mauer vor dem Westtor und verkündet: „Dies ist keine Kunst.“ Und damit die Schnappschußjäger dies auch noch zu Hause wissen, ist die Botschaft vorne und hinten auf dem Kleidungsstück aufgemalt.

* * *

Ganz fremd in dieser international gefärbten Atmosphäre und irritierend aufdringlich weht vor dem Westportal die schwarz-rot- goldene Fahne. Weil es keinen anderen markanten Treffpunkt in diesem Gewimmel gibt, verabreden sich die Punks, die Studenten aus Spanien, die Touristen aus Japan und den USA, das Liebespaar aus Kiel an diesem Ort. „Wir sehen uns um neun an der Deutschlandfahne“, heißt es, und viele lächeln dabei verschämt. Nur eine Gruppe von Berlinern ist nie zu sehen – weder unter Schwarz-Rot-Gold noch unter den Bäumen ringsum, wo sie früher immer saßen, aßen und spielten. Es fehlen die Familien aus der Türkei, die Frauen, die ihre Schönheit hinter den Schadors verbergen, für immer – und nicht nur diese vierzehn Tage lang.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen