■ Seehofers Entdeckung einer neuen Solidargemeinschaft: Sparzwang fördert die Erkenntnis
Herzlichen Glückwunsch! Kurz vor ihrem 30jährigen Dienstjubiliäum – gerade rechtzeitig vorm Eintritt ins Rentenalter – erfährt die Lebensform Wohngemeinschaft jetzt späte Rechtfertigung. Zum ersten Mal nimmt nun ein Bundesgesetz zur Kenntnis, daß es sie gibt: Wohngemeinschaften, so sieht das neue Bundessozialhilfegesetz vor, sollen künftig Familien gleichgestellt sein – jedenfalls dann, wenn's ums Zahlen geht. Bevor einer der ihren Geld vom Sozialamt kriegt, will man künftig die anderen Mitbewohner zur Kasse bitten.
Ausgerechnet Horst Seehofer, der Minister mit dem CSU-Parteibuch in der Tasche und dem Papst im Herzen, macht damit juristisch hoffähig, was seit Jahren offenkundig ist: Die festgefügte Familienwelt ist längst von der Realität überholt, ist nur noch eine Form des Zusammenlebens. Immer mehr Menschen suchen in sehr unterschiedlichen Konstellationen, wie und mit wem sie in verschiedenen Lebensphasen Bett, Kühlschrank und Staubsauger teilen. Fast eine Generation dauerte es, bis der Sparzwang dieser Tatsache auch in Bonn zur Anerkennung verhalf.
Nur kommt die Bonner Erkenntnis Jahre zu spät und ist deshalb gleich aus mehreren Gründen falsch. Die Kommune-Zeiten, wo Wohngemeinschaften nach dem Prinzip „Jeder nach seinen Möglichkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ verfuhren, sind längst vorbei. Das miteinander Wohnen ist nur noch in den seltensten Fällen alternatives Lebensmodell mit eingebautem Anspruch auf Solidargemeinschaft. Die Wohngemeinschaft von heute ist eine Zweckgesellschaft mit beschränkter Haftung – man lebt zusammen, weil man sich mag, weil es praktisch ist, weil die Wohnung allein zu teuer wäre, weil die Kinder im selben Alter sind, weil man des Alleinseins überdrüssig ist. Das alles hat mit Familie, gemeinsamer Lebensperspektive und Finanzplanung herzlich wenig zu tun.
Das weiß man eigentlich auch in Bonn. Denn wenn es ums Geldausgeben geht, kann der Unterschied zwischen traditionellem Familienverband und anderen Lebensformen gar nicht groß genug sein. Da wird selbst eheähnlichen Partnerschaften die kleinste Vergünstigung verwehrt, weil der Trauring fehlt: kein Wohnberechtigungsschein, kein Anspruch auf zinsgünstige Baudarlehen, kein Steuerfreibetrag, kein Familienrabatt im öffentlichen Freibad, keine BahnCard zum Vorzugspreis. Der Popanz von Ehe und Familie wiegt immer noch so schwer, daß konservative Politiker eine rechtliche Gleichstellung mit anderen Lebensformen beharrlich verweigern. Nur: wer über seinen eigenen ideologischen Schatten springt, um Geld zu sparen, muß es auch anderer Stelle tun. Vera Gaserow
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