: „Völlig lebensfremd“
■ Kritik an Seehofers Unterhaltsplänen
taz: Frau Junge-Reyer, wenn Seehofers Pläne, nach denen Mitglieder von Wohngemeinschaften bei Notlagen gegenseitig unterhaltspflichtig werden sollen, durchkommen, würden Sie in Kreuzberg ja reichlich sparen.
Ingeborg Junge-Reyer: Erstens glaube ich gar nicht, daß wir in erheblichem Umfang Geld sparen würden. Zweitens gilt meine grundsätzliche Kritik: Mit einer solchen Regelung werden erwachsene Menschen, die selbständig leben, behandelt, als ob sie eine Familie gegründet hätten. Das ist völlig lebensfremd. In einer Familie wird ganz anders gewirtschaftet als in einer Wohngemeinschaft. In einem Familienhaushalt kann ein Mitglied lange Zeit finanziell auf etwas verzichten, um einem anderen etwas Besonderes zu ermöglichen. In einer Wohngemeinschaft aber bestehen ganz andere Beziehungen und Verantwortlichkeiten zueinander. Außerdem leben viele Menschen nur der Not gehorchend zusammen.
Die Sozialämter prüfen schon bisher, ob Angehörige zum Unterhalt herangezogen werden können.
Aber die neue Regelung hätte eine neue Qualität. Hier würden Menschen in erheblichem Umfang persönlich füreinander verantwortlich gemacht werden, die dies nie miteinander verabredet hatten und dies auch so nicht wollten. Das ähnelt einer Zwangsverheiratung.
Wäre diese Regelung für die Sozialämter handhabbar?
Ich kann mir nicht vorstellen, wie man kontrollieren will, ob Menschen wirklich den Willen gefaßt haben, füreinander verantwortlich zu sein, oder ob sie nur die Miete miteinander teilen wollen. Nehmen wir an, ich wohne mit einer gutbetuchten Lehrerin zusammen. Die müßte, wenn ich Sozialhilfe beantragte, künftig ihr Einkommen offenlegen und für mich einstehen.
Dann sparen die Sozialämter zwar Geld, aber dann werden solche Wohngemeinschaften keinen Bestand mehr haben. Konstellationen, wo Menschen zwangsweise eine solche finanzielle Verantwortung füreinander übernehmen sollen, brechen auseinander. Das lehrt schon die Erfahrung innerhalb der Familien, wo Eltern und Kinder sich entfremden, wenn sie füreinander zum Unterhalt herangezogen werden.
Was raten Sie Herrn Seehofer?
Er sollte anerkennen, daß erwachsene Menschen ihre Lebensform selbst bestimmen und unabhängig voneinander sein wollen.
Das bedeutet konkret?
Die geplante Regelung ersatzlos streichen. Interview: Vera Gaserow
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