: Vielleicht wird es ein Reisebuch
Autoren und Verlage machen es sich oftmals leicht und schreiben fleißig voneinander ab. Ergebnis: In fast allen Reiseführern steht dasselbe. Wären da nicht die schreibenden Globetrotter ... ■ Von Gisela Buddée
Ein warmer Sommerwind zerzaust mein Haar in der Lozère. Wir wandern das Tal hinunter, dorthin, wo satte Sträucher am plätschernden Fluß ihren Durst löschen. Noch eine halbe Stunde, und wir werden bei den Mönchen einkehren, die uns Brot und Wurst abschneiden und ein Gläschen von dem Wein anbieten werden, den sie selbst anbauen und der „Notre Dame de Neige“ heißt.
Diese Bilder sind gerade in meinem Kopf, der Computerbildschirm vor mir ist fast leer, neben mir liegt der Notizblock. Es ist kaum zu lesen, was ich neulich mit weinseligem Kopf für die Wanderroute notiert habe. Aber das macht nichts, ich erinnere mich genau, und ein Blick auf die detailgetreue Karte hilft mir zurück. Ich schreibe ein Reisebuch.
Ja ja, ich habe auch gelesen, daß das ganz anders geht: Die Autorin oder der Autor hat sich mit einem Verlag auf ein gängiges Reiseziel geeinigt. Nun blättert sie oder er in der Buchhandlung, Abteilung Reisen, schreibt sich die inhaltsreichsten Werke auf (nein, nicht die Kunstreiseführer, sondern die mit den meisten Hotel- und Restaurantadressen), um sie dann auf irgendeine Art günstig zu besorgen. Vielleicht bestellt sie der Verlag, für den er schreiben soll. Manche tun das. Und das bißchen, das sonst noch fehlt, läßt sich an einem Nachmittag in der Bibliothek anlesen, und dann frisch ans Werk. Ach ja. Und dann besteht die Welt aus Fünfsternehotels. Da, wo es keine gibt, dafür aber ein Dutzend Häuser in ähnlicher Qualität, werden Sie beim Durchblättern von fünf Reiseführern immer nur dieselben zwei oder drei finden. Wer hat von wem abgeschrieben? Bei den Restaurants ist das genauso. Oder sind Sie noch nie einer gedruckten Empfehlung gefolgt und haben sich verblüfft gefragt: Wieso gerade hier?
Es ist nicht so (oder doch sehr selten), daß der Verlag den begnadeten Schreiber anruft, ihm einen schönen Spesensatz andient und mit attraktiver Umsatzbeteiligung bei hoher Auflage lockt. Meist möchte der Schreiber ein Buch machen, und der Verlag erlaubt ihm das, heißt: druckt den Text, läßt ihn binden, ein hübsches Cover drumrum, und verkauft ihn. Mit ein bißchen Glück hat sich der Autor die Reise durchs Schreiben finanziert. Nicht immer! Mancher ist viel gereist, hat viel recherchiert und lange geschrieben, hat sich auch gefreut, daß ein schönes Buch erschienen ist, und schreibt weiter: Rechnungen, Mahnungen, Drohungen, bis – so ganz allmählich – wenigstens ein Teil der Reise Jahre später finanziert ist. Aber da steht immerhin das Buch, und es ist schön geworden. Natürlich kann es sein, daß das gute Stück verramscht wird, weil der Verlag inzwischen pleite ist. Dann reist man weiter, ohne zu schreiben, oder hat Spaß dran bekommen und sucht sich einen anderen Verlag.
Also schreibe ich das mit den Mönchen oder nicht? Immer wenn ihre roten Nasen in dem hitzegeschwängerten Raum über den Holztresen nicken, denke ich, daß etwas mehr Besuch ihrem Ein- und Auskommen zuträglich wäre. Aber möchte ich denn das nächste Mal auf eine organisierte Wandertruppe treffen, die am vorbestellten Imbiß kaut, während der Mönch, der mich auch nach Jahren noch wiedererkennt, keine Zeit für den kleinen Schwatz mehr hat und nur noch Flaschen reihenweise entkorkt? Auf wieviel Service hat Anspruch, wer ein Reisebuch kauft? Oder muß ich dem Verlag, der meine Arbeit bezahlt, meinen Geheimtip schenken?
Heute nacht habe ich vom Bürgermeister von Montpellier geträumt, der neben mir in Cap d'Agde stand. Seine ausgestreckte Hand beschrieb das ganze betonierte Areal, und mit feistem Gesicht lud er mich ein, eine Weile zu bleiben, einfach so. Dann würde ich das ganze Kapitel „Strände“ umschreiben, „bien sûr!“ Heute morgen war mir klar, daß ich den Bürgermeister von Montpellier überhaupt nicht kenne. Aber ich spüre noch den Teer zwischen den Zehen und die Sonne, der man hier – nein, natürlich dort, ich bin längst wieder zu Hause – schutzlos ausgeliefert ist, weil weder Baum noch Strauch im Sandboden wächst, und höre meinen Schwur, niemals hier Ferien zu machen und das auch, zumindest zwischen den Zeilen ganz deutlich, zu schreiben.
Es macht Spaß, Reisebücher zu schreiben. Aber wieviel muß man gesehen und gehört, gelesen und erfahren haben, um ein Land oder eine Landschaft zu verstehen? Um mehr oder Beständigeres zu transportieren als die eigenen Vorurteile? Nie wird man eine Gegend je so intensiv kennenlernen wie die, über die man schreiben will. Zum Beispiel die ostdeutsche Ostseeküste. Das neueste Material ist von gestern. Das Hotel, in dem ich übernachten möchte, gibt es nicht mehr. Ich abonniere verschiedene Lokalzeitungen, weil ich, mit etwas Glück, nur hier erfahre, was niemand erzählt: was der Graf vorhat und die PDS nicht will, aber die CDU vorschlägt und die Grünen gerade eben erst entschieden haben. Ich verbringe ein Wochenende im besten Hotel am Platze (es gibt kein anderes), Stück einer Westkette mit vier Sternen, aber ohne Klopapier, und die Spülung geht auch nur einmal täglich, dafür plärrt das Fernsehgerät los, wenn man seinen Schlüsselchip in das Kästchen neben der Tür steckt. Tröstlich, daß das beste Restaurant Vorwende- und Wendezeit überstanden hat (das zweitbeste von dreien, die gegenwärtig geöffnet sind, bot gestern als Spezialität gebratene beziehungsweise gegerbte Ente an), das Gemüse nicht mehr aus der Dose kommt und die freundliche Bedienung fragt, welche Sättigungsbeilage ich wünsche. Es ist vertraut und genau das bißchen fremd, das man sich von fremden Orten wünscht. Was saniert ist, sieht aus wie in Lüneburg oder Damp. Baracken mit Schnellimbissen trüben den Blick auf Historisches.
Und wenn das Licht in den Geschäften erlischt, in denen mit Schnäppchen und Tschüs-Preisen geworben wird, müßte eigentlich der Nachtwächter durch die dunklen Straßen gehen und die letzten Kinder in die Häuser schicken. Aber es gibt keinen Nachtwächter, der Ort ist wie ausgestorben zu einer Zeit, da es noch in keinem Fernsehsender Abendnachrichten gibt. Ich hatte zwar irgendwo gelesen, daß es hier abends ziemlich tot ist. Das ist untertrieben. Ohne die Idee zu einem Buch im Kopf wäre ich doch nie, zu dieser Tages- und Jahreszeit, in diesem Ort gewesen und hätte das gar nicht erlebt, und das ist unbezahlbar. Aber was werde ich schreiben? Alfred Andersch hat über die Stadt geschrieben, wie ich gerade aus einem Reiseführer erfahren habe. Jetzt muß ich erst ein Buch kaufen gehen. Halt! Andersch hat über eine andere Stadt geschrieben, der Autor hat sich geirrt. Ich werde noch etliche Mal hinfahren, im Frühling, im Sommer, und die Landschaft wird sich für mich aus Gesehenem und Gehörtem und Gelesenem zusammenpuzzeln, bis ich darüber schreiben kann.
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