: Ende der Regenzeit
Zinssenkungen in Tokio und Washington führen zu Börsengewinnen / Die japanische Wirtschaft bleibt jedoch von Deflation bedroht ■ Aus Tokio Georg Blume
Sorgfältig begleiteten westliche Analytiker in den vergangenen Jahren die nicht endende Tokioter Aktienbaisse, denn bis heute ergötzt sich das europäische Publikum gerne am langsamen Zerbröckeln des einst gehüteten „Japan-Mythos“. Doch gestern beklatschten selbst die ausländischen Kommentatoren die unerwartete Hausse am japanischen Aktienmarkt, hatten doch seriöse Beobachter zuvor schon vor einem zweiten Börsenkrach in Japan nach dem ersten Einbruch Anfang der 90er Jahre gewarnt.
Den größten Sorgen gaben die jüngsten Entwicklungen nun etwas Aufschub. Nachdem die amerikanische Zentralbank (Fed) schon am Donnerstag ihren Leitzins um 0,25 auf 5,75 Prozent gesenkt hatte, folgte ihr gestern die Bank of Japan mit einer Kürzung der Tageszinssätze. Noch am gleichen Tag sanken die japanischen Zinssätze für kurzfristige Anleihen unter den Leitzinssatz von ohnehin schon nur einem Prozent auf 0,8 Prozent.
In den USA erklomm der Dow- Jones-Aktienindex mit 4.664 Punkten neue Rekordhöhen. Die auf die Bekanntgabe negativer Wirtschaftsdaten folgende Entscheidung der Fed, zum ersten Mal seit drei Jahren die Zinsen zu senken, führte zu neuerlichem Optimismus an der Wall Street: Mit Hilfe niedriger Zinsen könnte doch noch eine „sanfte Landung“ nach dem Höhenflug der US-Wirtschaft hingelegt werden.
Auch in Japan reagierte die Börse diesmal positiv. Nachdem alle großangekündigten Konjunkturmaßnahmen der Regierung bisher ihre Wirkung verfehlt hatten, legte der Nikkei-Index gestern immerhin sechs Prozent zu auf 16.213 Punkte. „Dieser Tag nimmt sich aus wie das Ende der Regenzeit“, hofft Masao Ariga, Volkswirt des japanischen Wertpapierhauses Daiwa, nun auf anhaltende Besserung der Finanzwetterlage. Premierminister Tomiichi Murayama, der in zwei Wochen seine ersten landesweiten Parlamentswahlen bestehen muß, hofft, „die Aktien werden steigen“ – eine wagemutige Voraussage.
Wie tief verunsichert in Wirklichkeit alle großen Wirtschafts- und Finanzinstitutionen sind, ließ sich jedoch aus einer vorsichtigen Randbemerkung des japanischen Zentralbankvorstands Kunio Kojima ablesen: „Japan befindet sich derzeit noch nicht in einer Deflation, obwohl eine solche Entwicklung nicht auszuschließen ist.“ Damit hatte die Zentralbank den Teufel Deflation erstmals beim Namen genannt. Denn die Yen- Aufwertung, gekoppelt mit dem wachsenden Strom billiger Importe aus Asien, sorgt in Japan für eine deflationäres Klima. Der Aufschub wäre dann nur vorübergehend, zumal niemand ernsthaft an eine gemeinsame währungspolitische Front zwischen Tokio und Washington glauben mag.
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