: Frisco in Köln am Rhein
■ Ist die Domstadt wirklich die neue Homohauptstadt der Republik? / Und, wenn ja, warum bloß? / Jan Feddersen und Alexander Heinz unterwarfen sich ein Christopher-Street-Wochenende lang einem aufschlußreichen Verbrau
Die Parade, angeführt von vierzig lesbischen Motorradfahrerinnen und einigen Männern auf ihren Schweinehobeln, schreitet nun schon fast vierzig Minuten an uns vorüber. Enthemmtes Köln, Karneval bei vierzig Grad in der Sonne. Von den Festwagen werfen die „Cologne Diamonds“ Kamellen unters dankbare Volk. Und die „Amigas“, das Netzwerk homosexueller Unternehmerinnen („Wenn Lesben klüngeln“), wippen auf ihrer Ladefläche ihre Hintern wie Bowlingkugeln, die Menge vor Ekstase im Fullstrike zu Boden werfend. Und wir staunen: So viel Homo auf einem Haufen, das kann doch einfach nicht wahr sein!
Es ist jedoch erst der Anfang. Die Rheinperlen des FC Janus geben mit ihren wunderbaren Körpern an. Der „Schwule Stammtisch Geldern“ („Die Provinz tobt – St. Olaf grüßt den CSD“) ist ebenso mit im Schritt wie die Jugendgruppe Ernie & Bert aus Oldenburg: Sie und schätzungsweise 60.000 Männer und Frauen, Touristen am Rande dabei mitgezählt, sind am vergangenen Wochenende in Köln mitgelaufen auf der Demo namens Christopher Street Day, der Jahresparade schwuler und lesbischer Damen und Herren. Die Heinz hat derweil längst Tränen in den Augen und kräht – emotionalisiert wie sonst bei Sendungen von Jürgen Fliege („Mein Mann stottert. Und wo bleibe ich?“) – nur: „Meine schlechte Laune ist weg. Wahnsinn!“
Ein Wochenende am Rhein. So mußte es kommen, so sollte es sein. „Hamburg langweilt mich“, hatte Herr Heinz müde, resigniert fast, gemurmelt noch Tage zuvor, während er mit dunkel umränderten Augen ein Wasserglas betrachtete, in dem sich eine Kopfschmerztablette sprudelnd auflöste. Ich sah die gute Wahlverwandte für alle Lebenslagen bekümmert an: Ja, er hatte eine lange Nacht verbracht, im tristen Dreieck seiner drei Stammkneipen auf St. Pauli mehr als nur eine Runde gedreht, wie ein Hamster sozusagen, der im Laufrad zu verwelken droht.
Mein Job war also klar umrissen: Aufmunternd stimmte ich seinem Klagelied zu und meinte, daß „Hamburg eben Provinz ist, homotechnisch zumindest“. Doch das waren anscheinend hohle Worte, das Ding jammerte nur um so stärker: „Ich will weg, weg, weg!“ In einem Zug leerte Herr Heinz sein Getränk, um mit erregtem Unterton eine Erklärung („Ein Manifest, jawoll!“) abzugeben: „Ich will in eine bessere Welt, eine bessere Stadt, in ein besseres Jetzt!“ Das war natürlich nicht besonders logisch – aber was macht das schon, wenn jemand gerade mal eine der vielen Talsohlen des Lebens durchmißt?
Doch als gute Freundin weiß man Rat: „Wir fahren am Wochenende nach Köln. Zum CSD“, bestimmte ich das Kurprogramm. „Köln gilt als neue Homohauptstadt der Republik“, referierte ich knapp Angelesenes, „das wird dich auf andere Gedanken bringen.“
Vier Tage und vier Stunden später. Es ist 19 Uhr. Wir steigen aus dem Intercity, um uns herum scheint es von gleichgeschlechtlich orientierten Touristen nur so zu wimmeln. Man erkennt sie an den knappen Shorts, gerne auch aus Leder, sieht sie mit kurzen Haaren, Schnauzbärten und überhaupt an dieser Art von fehlender Kameraderie unter Männern: Selbst militärisch gescheitelte oder fremdenlegionärsartig geschorene Köpfe wirken noch wie stundenlang hochgesteckte Frisuren.
Das „Corner“ ist einer der Schenkel von Kölns drei homosexuellen Bermudadreiecken, wie uns ein einheimischer RTL-Nachrichtenredakteur erklärt, eine subkulturelle Dreifaltigkeit gewissermaßen, denn neben der Eckkneipe liegt das „Park“ und dort gegenüber wiederum das „Schampanja“. Und so stehen wir auf der Kreuzung Schaafenstraße/Mauritiuswall mitten in einer Menschentraube, nachts, im tropischen Klima, harren aus in den Massen, die sich rudeln, die Polizei provozierend, weil man für Autostaus sorgt: Wir ahnen, warum es in Köln anders zugeht.
Leben in Hamburg fast nur Homos, die sich am liebsten nie grüßen würden („Das haben wir nicht nötig“), finden sich in Berlin solche, die es mit der Etikette und der eigenen Hochnäsigkeit („Wir sind Hauptstadt“) sehr genau nehmen, wartet Frankfurt mit einer Szene auf, die darunter leidet, daß die amerikanischen Besatzungssoldaten verschwunden sind, so kommt man in Köln einfach zusammen: pragmatisch, theoriefern und, ja, lebenslustig.
Köln gibt sich alle Mühe, liberal zu sein. Großzügigkeit auf kleinkarierter Basis: Denn die gastronomischen Betriebe, so auch am Christopher-Street-Wochenende, müssen ihren Freiluftbetrieb eine Stunde vor Mitternacht einstellen – das Ordnungsamt wacht vor Ort darüber, damit die Kölner Innenstadtbewohner auch am Wochenende früh schlafen können.
Es hilft ja doch alles nichts, die homosexuellen Massen lassen sich nicht in die 70 Grad stickigen Kneipeninnenräume zurücktreiben. So stehen sie denn zusammen, und zwar überall in der City, hektoliterweise Kölsch (Herr Heinz: „Geile Plörre!“) in sich hineinschüttend: minderjährige Gymnasiasten neben bierbäuchigen Mittfünfzigern, schicke Fönwunder Seit' an Seit' mit Stiefelknechten. Wo sich in Hamburg die Szenen von selbst aufzuteilen scheinen, mischt sich in Köln alles – und zwar so wie in den Brauhäusern der Stadt, wo alle Klassen und Schichten nebeneinander verkehren.
In diesem mittelalterlichen Rheinmetropolchen, so scheint es, wagt man sich mit dem eigenen Lebensentwurf leichter an die Öffentlichkeit. Denn wo sonst finden wir auf offener Straße dicke Männer, wie jenen Endfünfziger, in allerengsten Hosen sowie einem bis auf den Bauchnabel ausgeschnittenen Netzhemd? Wo sonst trägt man kanariengelbe Halbschuhe und Lederchaps ohne was darunter: „Und das auch im Zentrum der Stadt und unter freiem Himmel?“ wie Herr Heinz als gute Hanseatin denn doch leicht schockiert bemerkt. Kurzum: Jeder Körper trägt in Köln streng Mode – egal wie es aussieht, egal welche Mode. Es dominieren: kurze Hosen, erdfarbene Boots und gepiercte blanke Brüste. Raritäten hingegen sind lange Haare, Collegeslipper und Bundfaltenhosen.
Ein ganz eigenes Bekenntnis zu diesem Credo finden wir bei jenem zwanzigjährigen Kellner, der sich seine textilen Träume in Form von Schottenrock, Springerstiefeln und Flokatiweste („Sieht aus wie Tankgirl“, bemerke ich zu Heinz) erfüllt hat. Und während wir im „Elinor's“ in der Kettengasse (sic!) sitzen, bedenkt er unsere Reisenotizen mit selbstbewußtem Kölner Charme: „Is dat'n Liebesbrief für misch?“
Die landläufige Behauptung sowohl sozialdemokratischer Homowissenschaftler als auch autonomer Menschen, daß sich bei zunehmender Liberalität die Grenzen zwischen schwuler und heterosexueller Welt automatisch auflösen, wird in Köln widerlegt. Denn gerade hier gibt es in Relation zur Einwohnerzahl die weltweit viertgrößte lesbisch-schwule Infrastruktur aus Kneipen, Bars, Kinos, Saunen und sozialen Einrichtungen. Nach einer Untersuchung der Universität Utrecht haben nur Amsterdam, San Francisco und New York mehr zu bieten. Und wo man sich freizügig gibt, scheinen sich die verschiedenen schwulen und lesbischen Lebensformen besonders selbstbewußt zu präsentieren.
So ist es folgerichtig, daß der wichtigste Freierort der Alter Markt in der Mitte der Stadt ist. Unfaßbar, daß man in Kölner Homokreisen auch nicht davor zurückschreckt, den Heteroschlager schlechthin – nämlich „So ein Tag, so wunderschön wie heute“ – zu grölen, als käme man gerade vom Vatertag. „Denen ist auch nichts heilig“, staunt die gute Freundin und singt erst einmal mit.
Wie in keiner anderen Stadt bestimmt in Köln ein schwul-lesbischer Klüngel den kulturellen Mainstream mit: Ob Alfred Biolek oder Dirk Bach, ob Ralf König, Hella von Sinnen oder Alice Schwarzer, Jürgen Zeltinger oder Walter Bockmayer, sie alle kommen aus Köln oder sind dorthin gezogen – wie Tausende von Homosexuellen vor und mit ihnen. Sie kommen aus Recklinghausen, aus Viersen, aus Homburg oder von der Schwäbischen Alb: Köln und das Schwule – ihr Traum. Und: Die Kölner Homoszene ist solvent, geprägt von Berufstätigen und Yuppies, nicht von Studierenden und Ost-West-Geschädigten wie Berlin, intellektuelle Diskurse sind am Rhein erlaubt, aber nicht Pflicht.
Der grüne Bundestagsabgeordnete Volker Beck hat in der Kölner Innenstadt seinen Wahlkreis. Homosexuelle Seilschaften reichen bis in die obersten Etagen der Stadtverwaltung, in die Verästelungen der Medienszene (RTL, WDR) sowieso. Der spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer erklärte das Prinzip des Klüngelwesens, als er noch Oberbürgermeister Kölns war, in schlichten Worten: „Man kennt sisch, man hilft sisch.“
Ebenjener Adenauer war es auch, der in Sachen Homokultur den Takt angab, als er in den fünfziger Jahren, angesprochen auf das Schwulsein seines Außenministers Heinrich von Brentano, antwortete: „Solange der misch nisch anpackt...“ Den Nazi-Paragraphen 175 wollte er trotzdem nicht abschaffen. Die katholische Doppelmoral damals wie heute: Leben und leben lassen, bloß nicht zu sehr unter die Bettdecken der Nachbarn gucken, am Ende hat jeder sein Ach unterm Dach, also läßt man sich in Ruhe.
Der Kölner Filz aus Politik und Kultur, dazu der Zustrom Schwuler und Lesben aus der Region und aus dem ganzen Bundesgebiet haben Homosexuelle zum Machtfaktor werden lassen, der den Vergleich mit San Francisco plötzlich ganz real erscheinen läßt: Niemand kann heute in Köln gegen Homosexuelle Politik machen. Und nur hier konnte der Grüne Volker Beck bei den Bundestagswahlen mit 15,6 Prozent Zweitstimmen ein Traumergebnis erreichen, das beste für die Grünen in ganz Nordrhein-Westfalen.
Auch in einem anderen Punkt gleichen sich die Städte an der Goldenen Bucht und am Rhein: Mit seiner gut einen Million Einwohnern ist Köln groß genug, um ein urbanes Lebensumfeld zu bieten, und klein genug, daß eine Wählerpopulation aus Homosexuellen überhaupt zum politischen Machtfaktor werden kann.
Beide Städte wurden durch den Zweiten Weltkrieg geprägt: Köln stand durch seine Zerstörung vor dem völligen Neubeginn, in San Francisco sammelten sich in der McCarthy-Zeit öffentlich als homosexuell stigmatisierte Männer und Frauen, die aus der Armee verstoßen worden waren. Und wo sonst als in Köln – bei HL am Friesenwall – und in San Francisco gibt es cruisende Homosexuelle sogar schon im Supermarkt?
„Gleichwohl“, sagt Volker Bulla, offen schwules Ratsmitglied in Köln, „ist es nicht so einfach, Homosexuelles auch auf offizieller Ebene sichtbar werden zu lassen.“ So weigerte sich die SPD in Bündnisverhandlungen mit den Grünen, eine Antidiskriminierungsstelle für Lesben und Schwule zu schaffen. Und das örtliche Fremdenverkehrsamt, an dessen Spitze ein CDU-Mensch sitzt, will Köln nicht an Homosexuelle touristisch vermarkten. Bulla: „Da ist noch viel zu tun. Aber unsere Wahlergebnisse deuten an, daß die homophoben Bastionen bald geschleift sein werden.“ Volker Beck, dieser freundliche junge Mann in der Rolle des Homodarlings der Republik, sagt kühl: „Mit einer schwulenfeindlichen Politik macht man bei uns keine Schnitte.“
Sonntag, 17 Uhr. Die Parade hat sich in eine rauschende Party verwandelt. Alles nur Karneval? Keine Politik? Ist es unpolitisch, mit vor zwanzig Jahren noch unvorstellbarer Gelassenheit und souverän eine ganze Stadt in Besitz zu nehmen? Nicht nur für 72 Stunden? Die Rheinperlen vom FC Janus sehen das so: „Wann endlich dürfen wir mit amtlichem Segen gemeinsam durchs Leben schwimmen?“
Deutschland Schwulenverband fordert: „Liebe verdient Respekt“, was die Heinz sofort und löblich an Aretha Franklin („Respect“) erinnert. Die Schilder mit den Fotos von den Männern und Frauen, die an Aids gestorben sind, werden bis zum Ende weitergetragen: In Köln scheut man sich nicht, Politik nicht ohne Spaß zu zelebrieren. „Move your ass“ steht auf einem Plakat.
Wir gehen zum Bahnhof. Die Züge sind voll von Passagieren mit regenbogenfarbenen Ansteckern, manche wedeln sich mit ihren Schottenröcken Luft zu. Es ist heiß. Einer hat einen Walkman auf den Ohren und singt mit. Falsch, grauenhaft falsch und glücklich: „We are family.“
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