: Natürlich heilen mit Natursekt ?
Seit zwei Jahren wird über Sinn und Unsinn der Urintherapie kontrovers diskutiert / Ihre Wirksamkeit ist nach wie vor umstritten, wissenschaftliche Untersuchungen gibt es nicht ■ Von Matthias Fink
„Dreckapotheke“ wurde die Verwendung unappetitlicher Substanzen in der Medizingeschichte genannt. Vor allem Ausscheidungsprodukte und Blut standen auf dieser Liste abstoßender Stoffe. Sie schienen besonders geeignet, die bösen Geister, die für Krankheiten verantwortlich gemacht wurden, aus dem Körper hinauszuekeln. Oder benutzten unsere Vorfahren, noch nicht einer gewinnsüchtigen Pharmaindustrie hörig, solche Heilmittel doch wegen einer medizinischen Wirkung?
Die Diskussion entzündete sich in den vergangenen Jahren an einem Thema, das sonst eher die hinteren Spalten der Kontaktanzeigen bewegt: Urin trinken. Ist das nicht nur etwas für Natursektfetischisten, sondern auch für Gesundheitsfanatiker?
1993 brachte die WDR-Moderatorin Carmen Thomas ihr Buch „Ein ganz besonderer Saft – Urin“ heraus. Ende vergangenen Jahres folgte die deutsche Ausgabe von Coen van der Kroons „Die goldene Fontäne“. Die lange Tradition der Therapie in Indien wird dort ebenso dargestellt wie medizinische Hypothesen über ihre Wirkungsweise. Anwendungsvorschläge gibt der Autor aus eigenem Wissen, dazu kommen religiös geprägte Regeln und die Zuschriften glücklicher Gewährsleute, deren Leiden zuvor niemand hatte heilen können. Van der Kroon kritisiert den skeptischen Umgang der Wissenschaft mit dem Thema. Die Wissenschaft solle sich gerade dem widmen, was noch nicht bewiesen ist. Schließlich gebe es genug Fälle von Heilungen durch die Methode, die westlich der Saar in unverbildeter Form „Pipi-Therapie“ genannt wird.
Der psychologische Aspekt spielt bei den Behandlungen eine große Rolle, glaubt Hannelore Kugel, Heilpraktikerin in Königs Wusterhausen, die diese Therapie anwendet. „Die Leute sagen sich: ,Ich tue etwas für mich.‘ Damit wird ihre Selbstheilung aktiviert.“ Ekel zu überwinden und die Produkte des eigenen Körpers positiv zu sehen soll es den Menschen ermöglichen, mit sich selbst ins reine zu kommen.
Die physiologische Wirkung der Eigenurinbehandlung wird mit dem homöopathischen Prinzip erklärt: Indem der Körper eine geringe Menge von Schadstoffen aufnimmt, soll das Immunsystem gestärkt werden. Bei der Urintherapie wird davon ausgegangen, daß Hormone sowie Nährstoffe, die der Körper ausscheidet, auf diesem Weg wiederverwendet werden können. Nicht heilsam seien hingegen die Rückstände von Nikotin, Nahrungsmittelzusätzen, Drogen oder nichthomöopathische Medikamenten. All das ist deshalb bei einer Eigenurinbehandlung tabu. „Der Körper sollte vor der Therapie vier Wochen medikamentenfrei sein“, rät Hannelore Kugel.
Die Wirksamkeit der Urintherapie ist sehr umstritten. Günther Jonitz, Vizepräsident der Ärztekammer Berlin, ist sehr skeptisch: „Der Effekt der Urintherapie dürfte die Wirkung von Placebo- medikamenten nicht übersteigen. Urin wird nicht in die Positivliste der Ärztekammer aufgenommen.“ Auch Stefan Kreisz, Berliner Vorsitzender der Allgemeinen Heilpraktiker-Vereinigung, hält das Trinken von Urin zur Immunisierung für überholt. Zur Versorgung von Wunden dagegen könne eigener Urin durchaus sinnvoll eingesetzt werden. Die äußerliche Anwendung sei unproblematisch. Allerdings: „In der Pflanzenheilkunde“, sagt Kreisz, „gibt es bessere und wirkungsvollere Methoden, als Urin zu trinken. Die Ausscheidungsprodukte erregen ja normalerweise Ekel.“
BefürworterInnen stellen gerade diese Norm in Frage. Die Abwehr gegen das Trinken von Urin sei anerzogen, schreibt van der Kroon. Schließlich habe jeder Mensch schon vor der Geburt seinen eigenen Urin mit dem Fruchtwasser getrunken. Er empfiehlt Tricks (Mischen mit Wasser oder Honig), um den eigenen Widerstand zu brechen.
Auf vielfältige Weise soll sich der Urin in den Körper einführen lassen, bis hin zu Einläufen, Injektionen und Augentropfen. Ein Anwender berichtet von einer Putzaktion mit Urin. Das Ergebnis: „Hände, die sich gut anfühlten, ,Putzwasser‘, das ich mit gutem Gewissen den Blumen zu trinken geben konnte, und streifenfreie, saubere Fenster!“
Gar so weit gehen die Empfehlungen von HeilpraktikerInnen meist nicht. Hannelore Kugel verschreibt PatientInnen, die den Urin nicht herunterbekommen, homöopathische Medikamente, die mit Wirkstoffen des Urins versehen. Auch von der Verwendung fremden Urins hält sie nichts. Bei dem Genuß von Fremdurin kann es zu Infektionen kommen. Aids soll auf diesem Weg allerdings nicht übertragbar sein. Heilpraktiker Kreisz warnt vor Augentropfen und Urinspritzen, die auf eigene Faust zubereitet werden.
Malte Bühring, Professor für Naturheilkunde am Krankenhaus Moabit, sieht in der Urintherapie eine „kurzfristige Modeerscheinung. Ich glaube nicht, daß damit körperlich oder somatisch etwas bewirkt wird, was einen gesundheitsfördernden Effekt hat.“ Einzelne Bestandteile wie Harnstoff werden zwar in Arzneien wie etwa Salben verwendet. Daraus könne aber nicht auf eine allgemeine medizinische Wirkung der Urinbestandteile geschlossen werden. Auch wenn Waldarbeiter auf verletzte Stellen am Körper urinierten, lasse sich eine Wirksamkeit nicht durch kontrollierte Untersuchungen belegen. Ebensowenig überzeugen ihn die Erfolgsmeldungen über kerngesund wirkende alte Menschen, die regelmäßig Urin trinken. Deren Gesundheit könne auch einfach auf die gesunde Ernährung und Lebensweise zurückgehen, die bei der Urinbehandlung als wichtige Voraussetzung gilt.
Gefährlich ist die Methode des Urintrinkens laut Bühring allerdings nicht. Eine relevante Infektionsgefahr sieht der Naturheilkundler weder bei eigenem noch bei fremdem Urin, der getrunken wird. „Alles, was wir normalerweise essen, ist wesentlich stärker kontaminiert.“ Der Tabubereich um Körperausscheidungen sei „nicht auf bakteriologische Begründungen zu stützen“. Wer das Tabu bricht, indem er oder sie Urin trinkt, könne dadurch psychisch gestärkt werden. Das kann zum Heilerfolg führen. „Schließlich“, sagt Bühring, „haben 70 bis 80 Prozent der Krankheiten eine bedeutsame psychische Komponente.“
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