■ Mehr Zeit, mehr Einkauf, mehr Müll, mehr Entsorgung: Konsum ist Menschenrecht!
Ein Menschenrecht galt es zu erkämpfen. Jetzt stehen seine unermüdlichen Fürstreiter kurz vor dem Sieg. Amnesty international kann eine Akte schließen, jahrzehntelange Unterdrückung ist endlich gebannt: Die Bundesrepublik Deutschland bekennt sich zu einem menschlichen Grundrecht – zum Recht auf unbeschränkten Konsum.
Jahrzehntelang geknebelt durch antiquierte Ladenschlußgesetze, zum Gespött gemacht von halb Europa, als Geisel genommen von bösartigen Geschwerkschaftsfunktionären und nörgelndem Verkaufspersonal – jetzt endlich, sechs Jahre nach dem Mauerfall, die wahre Freiheit: Einkaufen nonstop, von frühmorgens bis spät in die Nacht. Geht ja in anderen Ländern auch, im Urlaub wenigstens. Zu Hause, ja zu Hause, da haben wir alle unseren geregelten Feierabend, möglichst früh, damit vom Tag noch was bleibt. Da schließt der Bankschalter schon um zwei, da hat der Arzt am Mittwoch zu, und das Finanzamt ist eh nur vormittags besetzt. Das ist nun mal so.
Aber der Einkauf, der Einkauf, das ist etwas ganz anderes. Konsum ist Menschenrecht, und das darf keine Einschränkung erfahren. Schließlich steigt die Zeit für Konsum proportional zu seiner Masse. Wann soll man auch all diese Dinge kaufen, die wir eh alle schon haben: elektrische Eierschneider, piepsende Schlüsselanhänger, sprechende Computeranlagen, sechs Sorten Schinken und zehn verschiedene Arten von Schokoriegel. Das alles soll zwischen 16 und 18 Uhr zu kaufen sein? Völig unmöglich, das schafft man bei riesigen Einkaufsmärkten allein schon geographisch nicht. Mehr Zeit heißt mehr Konsum, verspricht unser Wirtschaftsminister: 20 Milliarden mehr Einnahmen im Jahr. 20 Milliarden für noch mehr unnützes Zeug, das wieder „entsorgt“ werden darf.
Deshalb Schluß mit der Schonzeit für Verkäuferinnen. Halali für die unbegrenzte Schnäppchenjagd: mehr Geld und Zeit für die Tempel des Konsums. Auf daß die kostbare Freizeit nicht in Sportvereinen, Schwimmbädern oder Vorgärten vergeudet wird. Schließlich erfährt auch das Familienleben ungeheure Belebung: Kindergenöle und Eheprobleme zwischen Grabbeltisch und Einkaufswagen jetzt auch bis 22 Uhr. Zum Jugendzentrum und Altersheim sind die Kaufhäuser ja eh schon geworden – nun also mit längerer Öffnungszeit, was das an Sozialausgaben spart.
Natürlich kostet Konsum auch Zeit. Wer bis 22 Uhr Shopping geht, kann nicht gleichzeitig „Tagesschau“ und Hans Meiser gucken. Auch mit der Zeit fürs Kochen ist's schlecht bestellt, und an Gartenarbeit ist dann eh nicht zu denken. Aber dafür gibt es ja längst technische Lösungen: Videorecorder und Mikrowelle, Fertiggerichte und schallgedämfte Turbo-
rasenmäher. Solche Folgeinvestitionen braucht es dann eben, aber die sind ja kaufbar, bis 22 Uhr – das ist Freiheit. Vera Gaserow
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