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■ NormalzeitOhne Sinn und Verstand

„Der Arbeiter, welcher spart, ist mäßiger, charakterfester, zufriedener und sozialen Umwälzungen abhold“, schreibt der Emder Deichrichter Freerksen 1873 im Ostfriesischen Monatsblatt. An anderer Stelle führt er dazu aus: „Wenn man die Arbeiterclasse in ihrer gegenwärtigen Verfassung mit unbefangenen Augen betrachtet, kann man sich nicht verhehlen, daß ihr Wohlstand am allermeisten durch ein unregelmäßiges Leben gefährdet ist. Abgesehen von einer Anzahl günstiger Ausnahmen, wird, wie man sich gewöhnlich auszudrücken pflegt, ,von der Hand in den Mund‘ gelebt, das heißt der tägliche Verdienst, ohne Rücksicht darauf, ob er groß oder gering ist, möglichst bald verzehrt. Namentlich bietet die Neigung zum Genuß von Berauschungsmitteln dazu die allergrößte Veranlassung.“

Nicht selten wurden liederliche Frauenzimmer und allzu arbeitsfaule Männer einfach nach Amerika verfrachtet, wobei die Ämter sogar noch Geld für deren „Auswanderung“ rausrückten. Zugleich bemühte man sich aber auch, die niederen Volksschichten durch Erziehung, Zuteilung von Polder-Land und Sparkassen-Offerten am allgemeinen Glück teilhaben zu lassen. Im calvinistischen Ostfriesland funktionierte das auch, in Berlin wurde dagegen eher amerikanisch verfahren, jetzt mal wieder noch heftiger als früher.

Ende der Sechziger wimmelte es links und rechts des Görlitzer Bahnhofs noch von rund um die Uhr geöffneten Suffkneipen. Wenn ich abends nach Hause kam, ging ich regelmäßig in der Bullenwache Wiener Straße vorbei und sagte den Beamten: Da und dort steckt wieder ein Besoffener im Schneehaufen.

In der Forsterstraße war ich fast der einzige mit einem Auto, die meisten Bewohner waren Alkoholiker und Kleinkriminelle. Sie soffen sich tot, kamen nicht mehr aus dem Knast raus oder landeten mit Matschbirne in Bonnies Ranch. Die letzten wurden dann durch Studenten und Türken vertrieben. Auch die Bierschwemmen nach und nach: In der Wiener Straße gibt es jetzt eigentlich nur noch die Prolobeize „Kindl-Eck“.

Ende der Siebziger versuchten die gegen Kahlschlagsanierung engagierten „Linken“, auch die Türken zu vertreiben: „Türken raus – warum nicht, wenn es den Kiez rettet!“ schrieb zum Beispiel die zitty. Die Deutschen sahen in den Türken ausschließlich ein passives Werkzeug der Spekulanten zur Vernichtung von Wohnraum. Desungeachtet schufen sich beide Gruppen unabhängig voneinander langsam ihre eigene Infrastruktur, inklusive Kneipen. Erst seit etwa 1992 gibt es türkische Cafés, die für beide Gruppen gedacht sind und auch so funktionieren.

Zur selben Zeit etwa begann der forcierte Ausbau von Dachgeschossen und damit der Einzug einer neuen sozialen Gruppe in S.O.36. Diese im Kiez „Dachgeschoßlumpen“ genannten Gutverdiener haben in der Görlitzer Straße schon bewirkt, daß dort die „linken Kneipen“ durch Yuppie-Restaurants ersetzt werden. Und so geht es fort. Die aus dem Kiez gedrängten „Linken“ haben sich entweder in den noch billigen Ostbezirken oder in leeren märkischen Bauernhöfen angesiedelt, nicht wenige sind auch nach Westdeutschland zurückgegangen.

Die Türken haben es dagegen allem Anschein nach besser geschafft, dem derzeitigen spekulativen Modernisierungs-, das heißt Verdrängungsschub standzuhalten. Zwar werden sie seit der Wende massiv aus den Betrieben entlassen, wo es nicht wenige türkische Betriebsräte inzwischen gibt, aber dafür gelang es vielen, als Selbständige vom „Aufschung Ost“ zu profitieren. Mittlerweile haben die türkischen Betriebe schon für einige tausend Deutsche neue Arbeitsplätze geschaffen. Helmut Höge

wird fortgesetzt

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