piwik no script img

Berlin-Moskau/Moskau-Berlin 1900-1950. Ab 3. September widmen sich die 45. Berliner Festspiele den kulturellen Beziehungen zu Rußland. Im Zentrum steht eine gigantische Ausstellung: Exponate aus allen Kunstrichtungen. Sechs Jahre nach der W

Berlin-Moskau/Moskau-Berlin 1900-1950. Ab 3. September widmen sich die

45. Berliner Festspiele den kulturellen Beziehungen zu Rußland. Im Zentrum steht eine gigantische Ausstellung: Exponate aus allen Kunstrichtungen. Sechs Jahre nach der Wende ist die Zeit reif für eine Bilanz ohne Lügen und Rücksichtnahmen.

Erinnerungen an eine verlorene Nähe

Herr Rappaport, Chef der florierenden Alfa-Bank zu Moskau, sieht keine Probleme. „Klar sponsern wir ,Berlin-Moskau‘, dafür gibt's schließlich die Public-Relation-Abteilung. Ist gut fürs Geschäft, und darum geht's doch, oder?“ Schüttelt die Hände von Ausstellungsmachern und Reportern und verschwindet, flankiert von zwei Statussymbolen mit den bekannten, ausgebeulten Jacketts. Sein Kollege von IBM-Deutschland tut sich schwerer. „Unsere Produkte sind Bestandteil der materiellen Kultur“, meint er in der Glotze, „jetzt wollen wir als Sponsoren, quasi im Umkehrschluß, befruchtend auf die Kultur zurückwirken.“ IBM und ein paar weitere Firmen sind als Ersatzbefruchter eingesprungen, denn das deutsche Auswärtige Amt hat seine Finanzierungszusagen für das Projekt Berlin-Moskau/Moskau- Berlin fast auf null reduziert. Ist beleidigt, weil die Russen unbeweglich auf dem Priamos-Schatz sitzen.

Die Idee zu dem städteumspannenden Gesamtkunstwerk geht auf die späten sechziger Jahre zurück, als die russische Revolutionskunst in den Galerien des Westens wiederentdeckt wurde und der Schokoladenkönig Ludwig mit reicher Beute aus der Sowjetunion zurückkehrte – nach Köln freilich, nicht nach Berlin. Zu dieser Zeit war Fritz Mierau schon mitten in seinen jahrzehntewährenden Ausgrabungs- und Recherchearbeiten, ein Unternehmen, das mit dem großartigen Sammelband „Russen in Berlin“ 1987 doch noch das Licht der Welt erblickte – in Ost-Berlin.

Die Ausstellungsmacher im Westteil der Stadt waren damals im Bann des Metropolen-Glamour, später saß ihnen noch dazu der Erfolg der Paris-Moskau-Schau des Centre Pompidou im Nacken. Die Kultur des westlichen Berlin nährte sich von hochsubventionierten Importen, Surrogaten für die verlorene Weltstadt-Identität. Nicht auszudenken, wie die Ausstellung ausgesehen hätte, wenn sie zehn Jahre früher eröffnet worden wäre: selbstgefällig, voller falscher Nostalgie, geprägt von taktischen, der Entspannunspolitik geschuldeten Rücksichten.

Jetzt, sechs Jahre nach der Zeitenwende, ist die Welt der schönen Lügen zusammengebrochen, die Wirklichkeit zeigt die Zähne, auf beiden Seiten. In Moskau boomt deutscher Geschäftssinn, wird schnell und viel verdient. Das neue „russische Berlin“ der Glücksritter, Habenichtse und mehr oder weniger dezenten „Bisines“-Leute ist selbst journalistischen Schnarchhühnern eine Titelstory wert. Aber es ist auch die Zeit für eine Abrechnung mit einer blutigen Jahrhunderthälfte. Für die rückhaltlose Aufklärung des Schreckens, mit dem zwei totalitäre Ideologien Europa überzogen. Für Ehrlichkeit. Endlich Zeit für das Projekt „Moskau-Berlin/ Berlin-Moskau“.

Eigentlich lieben die Russen Berlin nicht, nach 1989 genau so wenig wie nach 1917. Es ist zu vertraut, liegt zu nahe an Rußland. „Berlin wollte immer eine fashionable europäische Metropole vortäuschen“, schreibt Nikitin in den frühen zwanziger Jahren. „Berlins öliger Glanz ist nur dem Schweiße ähnlich“, beschwert sich der Emigrant Assejew zur gleichen Zeit. Berlin gilt als provinziell, als Durchgangsstation zu den westlichen Welten. Aber gleichzeitig fasziniert es durch seine Unfertigkeit, durch seine „Unzuständigkeit“, wie Fritz Mierau schreibt. Es stimuliert den Kampf der Weltanschauungen, ästhetischen Programme und politischen Ideologien, der mehr als ein Jahrzehnt in der russischen Kulturszene Berlins tobt. Andrej Bely, Symbolist, Anthroposoph und Verfasser des großen Romans „Petersburg“, entlarvt Wladimir Majakowski in einer öffentlichen Veranstaltung als neuen Antichrist. Sergej Tretjakow, linksradikaler Proletkultler und Autor des gefeierten „Brülle China!“, verkündet unter tosender Mißbilligung des Publikums das Ende der aufs Individuum zugeschnittenen Ästhetik. Während der Selbstmord Majakowskis in Moskau den Schluß eines vielgestaltigen, schöpferischen Jahrzehnts ankündigt, ist Berlin noch einzigartiger Schau- und Kampfplatz.

Die Einflußströme Berlin-Moskau gehen gleich stark in beiden Richtungen. Der Internationale des Proletariats sollte die Internationale der Künste folgen. Bauhaus und Wchutemas, die höhere, künstlerisch-technische Werkstädte in Moskau, nehmen fast gleichzeitig ihre Arbeit auf. Der Konstruktivismus stimmt in seiner Dynamik, seiner Zuversicht ins technisch Machbare, mit dem neuen Bauen in Deutschland überein. Der Kampf zwischen den Filmemachern Eisenstein und Wertow spielt sich auch auf deutschem Terrain ab. Erwin Piscators Theater ist ohne die russische Theateravantgarde undenkbar, wirkt aber auch auf diese zurück. Die große russische Kunstausstellung in Berlin 1922 ist der erste triumphale Ausweis dieser gegenseitigen Potenzierung. Im Berliner Martin- Gropius-Bau wird die Geschichte und Wirkung dieses Ereignisses rekonstruiert.

Wie aber nahmen die Berliner das Treiben der Russen in ihrer Mitte wahr? Interessierte sie das Schicksal der zeitweilig Hunderttausenden, die in den „Russenschaukel“ genannten Bussen durch „Charlottengrad“, ihren bevorzugten Wohnort, fuhren? Überhaupt nicht, wenn man dem Zeugnis Stefan Großmanns glaubt, der 1922, aus Anlaß der Gründung der „Gesellschaft der Freunde des neuen Rußlands“ schrieb: „Ist es nicht töricht, daß wir an einander vorübergehen? Zwei Welten ohne Brücke, streng abgegrenzte Reiche. Russen bleiben Russen, auch auf dem Nepski- Prospekt in Berlin-W., wir Deutsche aber leben an unseren Stammtischen.“

Das „russische Berlin“ blühte und ging unter, ohne in der Sprache, in der populären Kultur Spuren zu hinterlassen. Genau wie die Intimität, die Vertrautheit beider Völker, die noch den Ersten Weltkrieg überdauerte, durch den Nazismus vernichtet wurde. Hitlers Zerstörungswerk vollendete Stalin. Zu ihrem eigenen Verderben vertrauten sich Tausende revolutionärer Arbeiter, Künstler und Schriftsteller nach der Machtübernahme der Nazis der Sowjetmacht an. Die Auslieferung vieler dieser Antifaschisten an die Gestapo im Rahmen des Molotow-Ribbentrop-Paktes war der entsetzlichste Ausdruck für die Angleichung beider Systeme. Eine Angleichung, die auch im künstlerischen Bereich aufzuspüren die Ausstellung unternimmt.

Und doch: Wie viele ansonsten zum Geiz stimulierte Passanten in den U-Bahn-Passagen Friedrichstraße oder Alexanderplatz halten inne, wenn, begleitet von Violine oder Akkordeon, das wohlbekannte „Pratati, Pratata“ aus Wyssotzkis Schwitzbad-Lied ertönt, oder das „Links Gehn, Rechts Stehn“, ein Song, mit dem Okutschawa den reglementierten sowjetischen Alltag verhöhnte? Sechs und eine halbe Million Mitglieder hatte die DFS, die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, in der DDR einst. Niedrige Mitgliedsbeiträge, nette Filmabende, gesellschaftliche Arbeit kaum gefragt. Das änderte sich bekanntlich mit der Perestroika. Aber die Einheit beendete jäh das echte Engagement, das ungeheuchelte Interesse der Zeit nach 1985. Wie viele von denen, die damals bei der „DSF“ Tengis Abuladses in der DDR verbotenen Film „Reue“ ansahen, werden heute eine der zahllosen Lesungen, Konzerte, Podiumsdiskussionen, Aufführungen besuchen, die im Rahmen des „Berlin-Moskau“- Projekts laufen? Werden sie sich einer erst lauen, dann herzlichen Freundschaft erinnern? Nicht zuletzt an dieser Zahl wird sich der Erfolg des Unternehmens bemessen. Christian Semler

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen