Short Stories from America: Traditionsjammern
■ Der „Tag der Arbeit“, die scheußliche Lage und die Tricks, sie zu umgehen
Letzte Woche feierte Amerika den „Tag der Arbeit“. Da verlangt die Tradition einen letzten Ausflug ins Grüne, bevor sich die Blätter färben, und Grillfeste, auf denen die Leute vor allem darüber reden, daß dies der letzte Ausflug des Jahres ist, bevor sich die Blätter färben. Die neuere Tradition, seit der Rezession von 1989, verlangt außerdem Zeitungsartikel über die amerikanische Arbeitslage. Und die ist scheußlich.
Einer der Hauptgründe für das Dahinsiechen der amerikanischen Wirtschaft ist, daß alle Welt meint, sie stehe in voller Blüte; und prompt taucht alle Welt vor der Freiheitsstatue auf, um Amerikanern die Arbeitsplätze wegzuschnappen. Diesen Eindruck vermitteln jedenfalls Leute wie Senator Bobe Dole und Gouverneur Pete Wilson aus Kalifornien bei ihren ersten Versuchen, sich für die republikanische Präsidentschaftsnominierung zu empfehlen. Genauso klingen aber auch Neoliberale wie Michael Lind, der in einem Kommentar in der New York Times zum „Tag der Arbeit“ strenge Einwanderungsbeschränkungen forderte, um die Löhne der amerikanischen Arbeiter zu schützen.
Nach einem Artikel in der New York Review of Books werden die Arbeitsprobleme durch Einwanderung nur verschärft. Lösungsvorschlag: verbesserte Schul- und Berufsausbildung. Lester Thurow, Wirtschaftsprofessor am Massachusetts Institute of Technology, verkündete dagegen in der Times, das bringe auch nichts, weil hochqualifizierte Arbeiter keine Arbeit mehr fänden. Seine Lösung: Entwicklung von Wachstumsindustrien, damit die neuen hochbezahlten Arbeitsplätze in den USA angesiedelt werden.
Das wird natürlich wieder mehr Einwanderer zur Folge haben. Deshalb kam Dooley Adcroft in einem Leserbrief der Times zu dem Schluß, die US- Löhne würden so lange fallen, bis die Löhne in den Entwicklungsländern steigen. Wie dieses Steigen funktionieren soll, blieb unklar, aber Reverend Peter Laarman ließ auf der gleichen Leserbriefseite durchblicken, dazu sei „eine lebendige Arbeiterbewegung“ vonnöten – was in Amerika etwa so wirkt wie die Trabi-Nostalgie.
Eleanor Fox, Jura-Professorin an der New York University, und der Times-Reporter Floyd Norris erklärten Firmenfusionen zum Hauptproblem, wie jene zwischen Disney und Capital Cities/ABC. „Fusionen“, schrieb Fox beiläufig, „können Arbeitsplätze vernichten und Gemeinden schädigen.“ Ihre Lösung: die seit Reagan bis zur Bedeutungslosigkeit zusammengestutzten Kartellgesetze aufpolieren, um die kapitalistische Konkurrenz am Leben zu halten. Die strebt aber nun mal nach hohen Profiten und niedrigen Kosten, was niedrige Löhne bedeutet – und eine Vorliebe für Einwanderer, die für noch niedrigere Löhne arbeiten.
Der empörteste Artikel zum „Tag der Arbeit“ stand auf der Titelseite der Times und handelte von der Zunahme privater Gemeinden. Vier Millionen der reichsten Amerikaner leben bereits in abgeschirmten Dörfern, komplett mit Toren, Privatstraßen, Müllabfuhr und Polizei. Ein Drittel der neuen Gemeinden in Südkalifornien haben bewachte Zufahrten; Disney plant eine Privatstadt namens „Celebration“ in Orlando/Florida. Die Times zeigte sich beunruhigt von dieser Entwicklung, besonders weil sie die zunehmende Einkommensdisparität zwischen den sehr Reichen und allen anderen so hervorhebt. Leute wie Lind und Thurow befürchten eine neue Zweidrittelgesellschaft, wo die Reichen ins herbstliche Grün fahren, während sich der Rest mit verfallenden Städten begnügen muß.
Aber dieses ganze Gejammer über bewachte Zufahrtsstraßen und Zweidrittelzukunft führt zu nichts. Wenn man die paar Jahrhunderte der Industrialisierung außer acht läßt, hat die Menschheit immer in Zweidrittelgesellschaften gelebt, in denen sich die Reichen von allen anderen abschotteten. Das waren dann sogenannte Schlösser mit eigenen Polizisten (Ritter genannt), Umweltschutzgesetzen (gegen Wilderer) und Erholungsgebieten, die durch Wälle und Gräben geschützt wurden. Die Kaufmanns- und Kapitalistenklassen (und ein paar Handwerker) hingen nur deshalb in den Städten herum, weil sie für ihre Geschäfte einen Ort brauchten, der noch nicht den Schloßbesitzern gehörte. Aber irgendwann konnten auch sie sich an behaglichere Orte zurückziehen.
Der ganze Ärger begann im 18. Jahrhundert mit diesen Ideen vom allgemeinen Wahlrecht. Damals entwickelten die unteren 80 Prozent die Marotte, sie hätten genausoviel Anspruch auf politische Macht wie die oberen 20 Prozent. Im 19. Jahrhundert wurde es noch schlimmer, weil „sie“ jetzt auch noch genausoviel wirtschaftliche Macht wollten, und seit 1960 lief alles aus dem Ruder, weil „sie“ auch noch die gleichen Drogen wollten. Kein Wunder, daß „sie“ anfingen, in den Städten Unruhe zu verbreiten. Es gab eine Zeit, als die Formel „NGUKML („Nicht ganz unsere Kinderstube, meine Liebe“) noch etwas bedeutete. Inzwischen ist die städtische Geographie völlig aus den Fugen. Überall schlafen Aufsteiger und Obdachlose herum. Nun müssen die Reichen dafür zahlen, daß sie in den letzten zweihundert Jahren ihre Häuser nicht ummauerten. Aber die Arbeitskosten sind viel höher als um 1820, so daß sie sogar illegale Einwanderer dafür einsetzen müssen. Private Gemeinden sind daher nichts anderes als eine Rückkehr zur Tradition.
Ich liebe die Tradition; sie sorgt für den Zusammenhalt eines Landes und stärkt sein moralisches Rückgrat. Ich spare schon fleißig, damit ich mein Getreide in der Handmühle einer Schloßküche mahlen kann, und ich investiere in eine neue Wall-und-Graben-Firma namens „Stacheldraht, Champagner und Heckenschützen für die Allgemeine Dachorganisation der Elite“ – kurz: Schade. Marcia Pally
Aus dem Amerikanischen von Meinhard Büning
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