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Chaotische Orthographie

■ betr.: „Teure Sprak“ (Recht schreibreform), taz vom 27. 10. 95

[...] Offenbar gehört Herr Gauger zu den glücklichen Menschen, die es nach 13jähriger Schulzeit und einschlägigem Universitätsstudium zu einer halbwegs passablen Beherrschung der deutschen Orthographie gebracht haben – ich gehöre auch zu dieser Gruppe und bilde mir etwas darauf ein: Die Arbeit dafür war ja schwer genug.

Nun stellt sich aber die Frage, ob das, was für Herrn Gauger und mich machbar war, auch wünschenswert ist, vor allem, ob es kommenden Generationen noch zugemutet werden kann. Es sind nämlich nicht nur „gewisse Dinge in der deutschen Rechtschreibung zu reformieren“, wie Gauger mit Blick auf die Groß- und Kleinschreibung meint. Völlig ungeregelt ist in unserer Orthographie zum Beispiel das Problem der Kurz- und Langvokale (Tiger, aber Ziege; Meer, aber mehr; wunderbar, aber Bahre), ferner die Verschriftlichung derselben Laute durch verschiedene Buchstaben oder sogar Buchstabengruppen, zum Beispiel f durch ff, ph und v, während andere, eindeutig verschiedene Laute wie stimmhaftes und stimmloses z und s sich durch nur einen Buchstaben repräsentiert finden. Hätte Gauger seinen Blick nicht nach Süden, sondern auf unsere niederländischen Nachbarn gerichtet, dann wäre ihm klar geworden, wie eine überzeugende Reform unserer Rechtschreibung auszusehen hat: Sie muß orientiert sein an einem möglichst engen Gleichlauf zwischen Lauten und Schriftzeichen, durch eine möglichst geringe Zahl von Regeln und vor allem durch Konsequenz und Ausnahmslosigkeit. Auch von den Finnen und den Türken könnten wir in dieser Hinsicht viel lernen. Niederländische, finnische und türkische Kinder lernen die Orthographie ihrer Sprachen mit dem Schreiben und Lesen der Buchstaben. Das dauert, wenn es hoch kommt, ein Jahr, anschließend kann jedes Kind nach Diktat fehlerfrei schreiben und jeden Text fehlerfrei lesen. So einfach könnte es auch bei uns sein, wenn nicht betonköpfige Politiker und elitebewußte Fachleute jeden vernünftigen Ansatz in dieser Richtung gleich im Keim erstickten – wir haben es heute, mehr als 150 Jahre nach Jacob Grimms Eintreten für die radikale Kleinschreibung, noch immer nicht auch nur zur gemäßigten Kleinschreibung gebracht!

[...] Interessant sind die ökonomischen Gedanken, die Gauger an die Rechtschreibreform anknüpft. So eine Sache kostet Geld, viel Geld sogar. Darum sollten wir uns bei der anstehenden Reform nicht mit Kinkerlitzchen zufriedengeben, die nach wenigen Jahren einer weiteren Nachbesserung bedürfen, sondern grundlegende Ordnung schaffen in einer der chaotischsten Orthographien dieser Erde. [...] Hartwig Franke, wissenschaftli-

cher Mitarbeiter am Institut für

Allgemeine Sprachwissenschaft

der Westfälischen Wilhelms-

Universität Münster

Wo sind die reformerischen Ideale der taz geblieben? Die Vereinfachung der Rechtschreibung stand einmal recht weit oben auf der bildungspolitischen Agenda fortschrittlicher Kreise.

Besonders erschreckend ist die Behauptung von Hans-Martin Gauger, daß es sich gar nicht vermeiden lasse, „daß bei der Beurteilung eines Menschen die mangelhafte Beherrschung der Regeln der Rechtschreibung negativ zu Buche schlägt“. Haben wir nicht immer wieder gefordert, größere soziale Durchlässigkeit dadurch zu erreichen, daß der aktiven Orthographiebeherrschung weniger Bedeutung beigemessen wird als wichtigeren Fähigkeiten? [...] Maria Schiller, Robert Palka,

München

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