■ Normalzeit: Erholung in „Neurosibirsk“
Auf dem Baikalsee in Sibirien arbeitet eine Gruppe Berliner Atomphysiker. Mit in einem riesigen Stahlnetz hängenden Photomultipliern „angeln“ sie im Wasser in 1.200 Meter Tiefe kosmische Neutrinos, nahezu masselose Teilchen, an denen sich die sogenannte Tscherenkow-Strahlung messen läßt. Das deutsch- russische Forschungsprojekt will so neue Erkenntnisse über den Ursprung des Universums gewinnen.
Dazu werden die Signale der Photomultiplier am Ufer des Baikalsees im ehemaligen Bahnwärterhaus „Kilometer 105“ an einer alten Transsib-Strecke mit Computern ausgewertet. Irkutsker Physiker betreiben im Winter die Eisstation auf dem See, Moskauer Akademiemitglieder sind für die Photomultiplier und Kabelverbindungen zum Ufer verantwortlich, die Berliner betreiben die Computerstation neben den Transsib-Gleisen. Für die Verpflegung der Expedition sind zwei Frauen aus dem nahen Weiler „Kilometer 106“ zuständig. Die Neutrino-Forschungsstation erreicht man von dem kleinen Ort Listvianka. Im Ort gibt es ein Baikal-Museum, eine Robbenstation und mehrere staatliche Sanatorien im stalinistisch-venezianischen Stil. U. a. trafen sich dort Breschnew mit Brandt und Gorbatschow mit Kohl.
Die Sanatoriumsgebäude wurden bisher vom Interhotel Irkutsk mitverwaltet. Jetzt will ein Schweizer Psychoanalytiker, Fritz Groß, dort groß ins Geschäft kommen: Der Erholungskomplex wird ins Enorme vergrößert und modernisiert – und zwar für Deutsche mit einem WKZwo-Sibirientrauma. Man sollte meinen, diese Ostfront-Strategen („Sibirien oder Sieg“) sind langsam am Aussterben – weit gefehlt: Immer mehr Deutsche zieht es nach Sibirien. Vor allem wollen sie dort Gulag-Reste und Öko-Katastrophen hautnah erleben! Nach Recherchen von Groß ist der „Antikommunismus immer schon eine negative Sibirien-Utopie“ gewesen, und „jetzt schraubt er sich vollends ins Absurde“. Groß meint damit nicht Ausstellungen wie im Karlshorster Museum („Auch die Russen hatten Opfer im Krieg zu beklagen“) oder im Gropius-Bau, „wo feigemutig der Totalitarismus illustriert wird“.
Der Genfer Psychoanalytiker macht sich Sorgen um uns, die Kotzbrocken-Kinder der Kalten Krieger: „Noch die ganzen achtziger Jahre über hat z. B. die FAZ den Bau der sibirischen Erdgastrasse gegeißelt, weil an der ,das Blut und die Tränen von Heeren sowjetischer Arbeitssklaven klebt‘. Nun stellt sich zweierlei heraus: 1. diese Arbeiter waren hochprivilegiert (,Einmal Trasse, nie mehr arm!‘), und 2. erst jetzt mit der Marktwirtschaft gibt es dort Sklavenarbeiter – Türken und Russen, Verbrechen, Prostitution und sogar, von Deutschen, faschistische Symbolik. Darüber berichtet keine einzige Zeitung, das Sibirientrauma der jungen Deutschen wird dadurch jedoch immer bedrückender.“ Als Beispiel zitiert Groß die jüngste Aufforderung des Wirtschaftsredakteurs der Woche, Peter Morner, noch mehr und weiter gen Osten zu investieren: „Bangemachen gilt nicht. Auf also nach Sibirien – ohne Zaudern, ohne Angst!“ Den dafür wie geschaffenen therapeutischen Ort am Baikalsee will Groß „Neurosibirsk“ nennen.
Und wenn alles gut geht, werden die Krankenkassen 43 Prozent der Kurkosten übernehmen. Merkwürdigerweise gibt es eine Reihe sowjetischer Schriftsteller, rechts von Solschenizyn, die genau dort eine neue russische Hauptstadt hinhaben wollen – aus volkstherapeutischen Gründen! Helmut Höge
wird fortgesetzt
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