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„Glaubt nicht dem Gerede der Diktatoren“

Neue Texte des chinesischen Dissidenten Wei Jingsheng. Letzte Woche wurde er zu 14 Jahren Haft verurteilt  ■ Von Kai Nieper

„Wandel und Handel“ lautet derzeit das Leitmotiv der deutschen Chinapolitik; die sie betreiben, allen voran Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Klaus Kinkel, verteidigen angesichts der weiterhin desolaten Menschenrechtslage in China das Primat der „stillen Diplomatie“.

Die Erfolge lassen freilich auf sich warten. Oder sollte man die Bereitschaft der 196. chinesischen Infanteriedivision, den Kanzler mit Teigstangen und Bohnenmilch zu bewirten, als Schritt in die richtige Richtung betrachten? Die Frage drängt sich auf, ob die Strategie der verstohlen zugesteckten Namenslisten politischer Gefangener mehr sein kann als lukrativer Selbstbetrug.

Wei Jingsheng, der in der vergangenen Woche erneut zu 14 Jahren Gefängnis wegen „umstürzlerischer Umtriebe“ verurteilt wurde, hat auch ohne Handel so manchen Wandel erleben dürfen. Er kennt die Einzelzellen und Arbeitslager in Peking, Qinghai und Tangshan, wo er sich schon zwischen 1979 und 1993 als „Konterrevolutionär“ aufzuhalten hatte, in- und auswendig. Er kennt auch die Errungenschaften der Reformpolitik Deng Xiaopings, die er nach seiner Freilassung (Peking bewarb sich damals um die Olympischen Spiele) ganze sieben Monate lang genießen durfte.

Am 1. April 1994 wurde er von chinesischen Sicherheitskräften verschleppt und dann über 19 Monate lang incommunicado – ohne Zugang zu seiner Familie, zu Freunden oder Anwälten – inhaftiert. Seine Mitarbeiterin Tong Yi wurde im Dezember 1994 zu zweieinhalb Jahren „Erziehung durch körperliche Arbeit“ verurteilt. Die „umstürzlerischen Aktivitäten“, die Wei jetzt vorgeworfen wurden, gelten in China als Kapitalverbrechen, das zur Kaiserzeit gern mit der Ausrottung ganzer Familien bestraft wurde.

Auf welche Weise der heute 45jährige Wei Jingsheng sich den Haß der Mächtigen zugezogen hat, ist jetzt in einer Dokumentation der Reihe rororo aktuell nachzulesen, die ihm bereits einmal, während seiner ersten Haftzeit, einen Band gewidmet hatte (Ariane Mnouchkine u.a.: „Der Prozeß gegen den Schriftsteller Wei Jingsheng“, 1986). Die aktuelle Dokumentation ist die nochmals überarbeitete und erheblich erweiterte Fassung einer Broschüre, die von der in Hamburg erscheinenden Oppositionszeitschrift Geist und Freiheit anläßlich des Deutschlandbesuches von Staatpräsident Jiang Zemin im Sommer herausgegeben worden war.

In China selbst konnte Wei zuletzt nicht publizieren; doch was er 1993/94, von der langen Haftzeit ungebrochen, in Hongkonger und US-amerikanischen Zeitungen veröffentlichte, zeugt von unerschrockenem Mut – mitunter grenzt es an Tollkühnheit. Mit Lust, so scheint es, legt er den Finger auf die offenen Wunden des Regimes, sei es die mißratene Olympia-Bewerbung (er verteidigt öffentlich einen verhafteten Olympia-Gegner), der Streit um die wirtschaftliche Meistbegünstigung durch die USA (er rät zu einer harten Haltung des Westens) oder der neue Kult um Mao zu dessen einhunderstem Geburtstag (er bezeichnet den Großen Vorsitzenden als „tragischen Fall“, einen gescheiterten Despoten). Dies alles ist jetzt nachzulesen.

Besonders hervorzuheben ist Weis ausführliche Beschäftigung mit der Tibet-Frage. Er teilt keinesfalls die Gleichgültigkeit, mit der selbst aufgeklärte Han-chinesische Intellektuelle das rücksichtslose Vorgehen der chinesischen Besatzungsmacht auf dem „Dach der Welt“ häufig betrachten. Angeregt durch einen Zwangsaufenthalt in der westchinesischen Provinz Qinghai (in der viele Tibeter leben), werden Weis „Ansichten zu Tibets Zukunft“, erschienen im Februar 1994, zu einer Generalabrechnung mit der chinesischen Despotie und den Methoden ihrer Geschichtsfälschung.

Der vorliegende Band enthält auch einige ältere Texte Weis, die seine politische Entwicklung – und damit die Existenz oppositionellen Gedankengutes – lange vor dem Massaker am Pekinger „Tiananmen“ – dokumentieren.

Faszinierend und erschreckend zu lesen ist bis heute das Buch „Meine geistige Entwicklung“ (1980), in dem Wei seine erste Eisenbahnfahrt in Chinas Westen beschreibt. Die Reise fällt in die Hoch-Zeit der „Kulturrevolution“ um 1966. Wei bemerkt, daß die Menschen, die an der Strecke um Nahrungsmittel betteln, sich noch nicht einmal Kleider leisten können: Sie werden nur von ihren Haaren und von einer Schlammschicht bedeckt. Erlebnisse wie dieses führen dazu, daß der ehemals begeisterte Rotgardist seine politische Haltung überdenkt; sie münden in Weis Forderung nach einer „fünften Modernisierung“: der Demokratisierung. Bereits im Dezember 1978 schrieb er an die Pekinger Mauer der Demokratie: „Ich rufe alle Genossen auf: Versammelt euch unter der Flagge der Demokratie. Glaubt nicht mehr dem Gerede der Diktatoren von ,Stabilität und Einigkeit‘...! Laßt alle selbsternannten Führer und Meister gehen! Sie haben das Volk seit mehreren Jahrzehnten um seine Rechte betrogen.“ Wenig später bereitete der neue starke Mann in China, Deng Xiaoping, dem demokratischen „Pekinger Frühling“ ein abruptes Ende.

Weis mutiger Appell, sein antiautoritäres Pathos brachten ihn damals für über 14 Jahre ins Gefängnis. Mit dem neuen Urteil hofft die chinesische Führung ihn ein für allemal mundtot zu machen. Kann „stille Diplomatie“ dies verhindern? Das vorliegende Buch verbreitet notwendige Zweifel.

Wei Jingsheng: „Mein Leben für die Demokratie“. Reinbek 1995 (rororo aktuell). 174 S., 12,90 DM

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