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Wolkenkratzer verbinden Himmel und Erde

■ Jeder vierte Japaner wohnt in Tokio. Ein gigantischer Organismus, der lebt und stirbt. Hast und Eile bestimmen den Gleichklang: Aufbauen, abreißen, aufbauen

Tokio erzählt die Erfolgsstory des Fernen Ostens. Aus einer Höhe von 333 Metern, vom Tokio- Tower aus gesehen, reicht die Stadt bis weit über den Horizont. Rund um den Kaiserpalast mißt sie etwa 50 Kilometer. Darin wohnt jeder vierte Japaner, 30 Millionen Menschen. Eine Stadt, die in Superlativen badet: führender Industriestandort, der Verkehrsknotenpunkt, die Stadt mit den meisten Museen, den besten Hochschulen, den größten Banken, Verlage. In Tokio gibt es mehr Telefonanschlüsse als in ganz Afrika.

Das alte Edo, wie Tokio in der Meji-Zeit hieß, wurde am 1. September 1923 genau zwei Minuten vor zwölf Uhr durch das Kanto- Erdbeben fast völlig zerstört. Niemals zuvor sind bei einem Beben und dem nachfolgenden Feuer mehr Menschen umgekommen. Zwei Jahrzehnte später, 1945, bombardierten amerikanische Geschwader die Stadt dem Erdboden gleich. Vom alten Japan ist nicht viel übriggeblieben. Nach dem Krieg wurde die Stadt wieder aufgebaut, zunächst in Flachbauweise, später, als die erdbeben- und feuersichere Architektur Fortschritte machte, kamen die Hochhäuser. Keine andere Großstadt der Welt ist wie Tokio. Wer denkt, Tokio sei so eine Art mutiertes Manhattan, irrt. Nur in der Innenstadt stupsen die eckigen Paläste aus Stahl und Glas die Wolken.

Millionen von Angestellten entern täglich die marmornen Refugien von Banken, Verwaltungen, Versicherungen und Handelshäusern. Rund um den Shinjuku-Park gruppieren sich die ausgefeimtesten Varianten der schlanken, eckigen Glasbauweise. In den beiden höchsten Gebäuden, die aussehen wie aus dem Stabilobaukasten, residiert die Tokioter Stadtregierung. Ein imposantes Zeichen ihrer Allgegenwart in Gesellschaft und Wirtschaft. Wenige Kilometer entfernt, im Viertel Choninmachi, fließt die Ginza, teuerste Einkaufsstraße der Welt, im Lichtermeer.

Jenseits der S-Bahn-Linie Yamamoto, welche die Innenstadt umschließt, liegt das kleinstädtische Tokio. Spezialitätenläden in Familienbesitz und kleine Restaurants, die bis spät in die Nacht hinein geöffnet haben, säumen die engen Vorortstraßen. Trotz ihrer idyllischen Winkel lebt die Stadt ein rasantes Tempo. In Eile und Hast wird gebaut, abgerissen und gebaut. Dreifach übereinanderliegend, schlängeln sich die Autobahnen durchs Häusermeer der 23 Stadtteile. Manchmal hat eine U-Bahn-Station zwanzig Ausgänge. Die Innenstadt zeigt ein Bild von sich, als würde sie spätestens alle zehn Jahre runderneuert.

Täglich aufs neue starten Putzkolonnen zur hygienischen Großoffensive. Ältere Frauen und Männer streifen mit Schaufel und Besen durch die Straßen, auf der Suche nach einem Haufen Dreck. In Japan schämen sich Pensionäre nicht, ihre Rente durch niedere Arbeiten aufzubessern. Mittags sieht man sie in den Parks in der Nähe von Mülltonnen Position beziehen. Sobald ein Büroangestellter die Plastikschalen seines Essens hineingeworfen hat, sind sie zur Stelle. Durch die U-Bahnhöfe fahren vor allem jüngere Frauen in weißen Arbeitsanzügen auf wendigen Elektrokarren und wienern mit ihrer Putzwalze die Bodenfliesen.

Niemand würde hier wagen, die Regeln der Sauberkeit zu verletzen, niemand würde achtlos eine Kippe wegwerfen oder die Zeitung auf der Bank liegen lassen. Auf den ersten Blick ist Tokio eine glänzende Betonwüste des Geldes.

Aber auch im Schatten der Hochstraßen und Bürohäuser im First-class-Stadtteil Minato-Ku reihen sich in winzigen Gassen schlichte Holzhäuser mit einem Garten davor. Nachmittags spielen die Kinder auf der Straße, am Abend trippelt der Vater, tagsüber in seinen Anzug in gedeckten Farben gezwängt, auf Holzpantinen zum nächsten Gemeinschaftsbad, um sich im Heißwasserbecken mit Freunden zu entspannen.

Wie Eilande der Ruhe liegen die japanischen Gärten, Shinto- Schreine und buddhistischen Friedhöfe im Häusermeer verstreut. Und wer die Stadt nach Osten mit der S-Bahn verläßt, sieht zwischen Industrieanlagen hie und da ein Reisfeld schimmern. Tokio ist ein gigantischer Organismus, der lebt und stirbt.

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