: Eine Frage von Tod, Geburt und Wandern
■ Hamburgs Statistiker prognostizieren die Bevölkerungsentwicklung des Stadtstaates bis zum Jahr 2010. Meistens lagen sie ziemlich daneben. Wie doll irren sie diesmal? Von Florian Marten
Eigentlich ist die Sache für jeden Statistikeleven ein Kinderspiel: Man nehme die Trends der Sterberate, der Geburtenrate und des Wanderungssaldos (Zuzüge minus Wegzüge), rühre ein paar Annahmen darunter, wie etwa die Auswirkungen der Abschiebepraxis, schicke das Ganze durch Taschenrechner oder PC – und fertig ist die Bevölkerungsprognose. Und tatsächlich: Das hochanständige Statistische Landesamt der Freien und Hansestadt Hamburg versucht sich auf derlei Art und Weise mit schöner Regelmäßigkeit und tabellarischem Fleiß an Bevölkerungsprognosen für den Stadtstaat.
Das jüngste Ergebnis liegt jetzt vor: Demnach darf sich Hamburg im Jahr 2010 auf eine Wohnbevölkerung zwischen 1.664.800 und 1.757.800 Menschen freuen. Einem deutlichen Rückgang der Bundespersonalausweisberechtigten Bevölkerung auf 1,3 Millionen Menschen (heute knapp 1,5 Millionen) wg. zuwenig Geburten, zuvielen Toten und Flüchtlingen ins Umland, stehe, so die Zahlenbeamten, ein kräftiger Zuwachs geburtenfreudiger EinwohnerInnen anderer Staatsangehörigkeiten auf bis über 400.000 Menschen gegenüber: Einwanderungsstadt Hamburg.
Auch die Alterspyramide verändert ihr Gesicht: Die dünne männliche Weltkrieg-Zwei-Generation stirbt aus, wodurch sich unter den 70jährigen des Jahres 2010 erheblich mehr Männer befinden werden als heute. Während das Altersbäumchen unten, bei den bis zu 21jährigen unverändert schmächtig bleibt und die 25-40jährigen an Zahl kräftig abnehmen, dominieren im Hamburg des Jahres 2010 die 40-60jährigen (der Autor dieses Artikels ist dann 55).
Die Freude an diesen Zahlenspielereien wird durch eine kleine bittere Tatsache getrübt: Kaum ein Prognosegebiet der Statistik lag in den letzten Jahren so daneben, wie das der Hamburger Bevölkerungsstatistik: Noch am 30. September 1980 präsentierte der damalige Stadtchef Hans-Ulrich Klose einen „Wahrscheinlichkeitskorridor“ für die Hamburger Bevölkerungsentwicklung, der für das Jahr 1995 die, wortwörtlich, „Extremwerte“ von 1,45 Millionen Menschen (obere Variante) und 1,38 Millionen (untere Variante) aufweist. Eine groteske Fehlleistung, zumal Hamburgs Bevölkerung schon vor 1989 wieder deutlich zulegte. Nach der Volkszählung im Jahr 1987 lebten zur riesigen Verwunderung des Statistischen Landesamtes plötzlich fast 100.000 Menschen mehr im Städtchen als geglaubt.
Aber auch die Berücksichtigung von Armutswanderung, Kriegsflucht und den Wanderungsfolgen der osteuropäischen Perestroika schützte die StatistikerInnen nicht vorm Danebentippen: Schon Ende 1992 lag eine zu Beginn des Jahres aufgestellte Prognose gleich um 10.000 unter der tatsächlichen Entwicklung. Erschrocken räumten die Menschenzähler ein: „Die Entwicklung deutet auf eine zunehmende Kluft zwischen der Projek-tion und der Realität hin.“ Hauptursache sind die Fehleinschätzungen in Sachen Zuwanderung und Abwanderung.
Ob die jüngste Schätzung von Ende 1994 diese Realitätslücke wirklich schließt? Wohl kaum: Hartnäckig weigern sich die Bevölkerungsprognostiker, mit Szenarien zu arbeiten, welche die wirklichen Trends in der Bevölkerungsentwicklung einfangen. Hauptursachen des Bevölkerungsrückgangs in den 80er Jahren waren, von der Statistik nicht ernstgenommen, der Elbtunnel, Hamburgs Strukturkrise und die Zersiedelung im Umland. So hat allein der 1975 eingeweihte Elbtunnel die Abwanderung aus Hamburg dramatisch beschleunigt. Der Trendwechsel Ende der 80er wurde verursacht durch Hamburgs neue Prosperität, die neue Lust an Urbanität und eine Zuwanderungswelle aus Kriegs- und Krisengebieten der Welt.
Nicht die Taschenrechner der Statistiker, sondern reale Politik, nicht „Wahrscheinlichkeitskorridore“, sondern Szenarien über alternative soziale und politische Trends gehören deshalb in den Werkzeugkasten der Bevölkerungsprognostiker: Wird Hamburg weiter zu den Gewinnern der Einheit gehören? Vermutlich ja. Wird es Hamburg gelingen, integrierte Stadtentwicklung und Wohnungsbauverdichtung im Stadtgebiet zu realisieren? Vermutlich nein. Wird die Zersiedlung im Umland weitergehen? Vermutlich ja. Werden Krisen, Armut und Zuwanderung anhalten? Vermutlich ja.
Hamburgs PolitikerInnen haben es somit zum Teil tatsächlich selbst in der Hand, wieviel Menschen im Jahr 2010 im Stadtstaat leben. Daß es möglichst viele sein sollten, läge durchaus im Interesse der Stadtre-genten, vorausgesetzt, es bleibt bei der heutigen Steuerzerlegung nach dem Wohnortprinzip: Nur die Steuern der Ortsansässigen wandern in die Stadtkasse.
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