piwik no script img

Eigentümlich faszinierend

Treffen einen Nerv: Die Tagebücher des Romanisten Victor Klemperer aus den Jahren 1933–1945 wurden eine Woche lang in den Münchener Kammerspielen gelesen. Insgesamt 10.000 Leute kamen  ■ Von Thomas Pampuch

Montag abend, 20.30 Uhr im Werkraum der Münchener Kammerspiele. Der kahle, große Raum mit den nicht verkleideten Backsteinmauern ist gesteckt voll. An die 300 Leute sitzen auf einfachen Holzstühlen, die man, um Platz zu sparen, statt der üblichen Sitzreihen aufgestellt hat. Viele hocken auf dem Boden, lehnen an den Wänden bis ins Foyer. Vorne auf der improvisierten Bühne sitzt, von zwei Scheinwerfern beleuchtet, Helmut Griem und liest Victor Klemperer. In einer halben Stunde wird er von Rolf Boysen abgelöst werden. Seit fünf Tagen (und noch bis zum Mittwoch) werden im Werkraum täglich von 10 Uhr morgens bis 10 Uhr abends die gerade erschienen Tagebücher des jüdischen Romanistikprofessors vorgelesen, der mit seiner nichtjüdischen Frau die Nazizeit in Dresden überlebte. Zwei Bände, mehr als 1.500 Seiten, die vom Januar 1933 bis zum Juni 1945 reichen, und sein Tagebuch der ersten Zeit in der SBZ „Zwiespältiger denn je“ vom Juni bis zum Dezember 1945. Der Eintritt ist frei.

Griem liest: „... 26. August, Donnerstag nachmittag. Gestern die Nachricht, daß Himmler das Ministerium des Innern erhalten hat. Der Radikalste also, der berüchtigste Bluthund der Partei, der Polizeiführer, der Göring-Gegner, der Exponent der eigentlichen Blutrichtung! Wie muß es in Deutschland aussehen, wenn man den Henker schlechthin zum Minister des Innern macht! ... Fetscher meinte, ja, es sei ein sicheres Omen, aber schnell werde das Ende nicht kommen. Er erzählte den neuesten Witz: „Wer zehn neue Leute für die Partei wirbt, darf aus der Partei austreten; wer ihr zwanzig neue Leute zuführt, erhält eine Bescheinigung, daß er ihr nie angehört hat.“ 31. August, Dienstag vormittag. Geht es dem Ende zu? ...

Offensichtlich, aber in welchem Jahr sind wir? Der Witz klingt nach 44, eigentlich nach noch später. Die Leute wollen sich abseilen, denken schon an die Nachkriegszeit. Doch bei den nächsten Einträgen wird klar, Griem ist erst bei den Aufzeichnungen vom Sommer 43: „... 15. September, Mittwoch morgen ... Der Zeiger meiner Hoffnungsuhr rückte gestern vom 1.10. 43 zum 1.4. 44. So stark ist die militärische, so grandios die propagandistische Umbiegung der Italienkatastrophe in einen deutschen Sieg ...“

Herbst 43 also. Noch über eineinhalb Jahre bis zum Kriegsende. Der „Zeiger der Hoffnungsuhr“ wird noch einige Male vorgerückt werden müssen. Für einen kurzen Moment hat einem der Witz das trügerische Gefühl gegeben, daß Ende sei nahe. Klemperers Tagebücher sind voll von diesen Hoffnungsschimmern – manchmal auch im Verein mit der traurigen Gewißheit, schlimmer könne es ja nicht mehr kommen. Und jahrelang lang kommt es dann doch immer schlimmer.

Es ist quälend, aber auch eigentümlich faszinierend, die Entwicklung der Nazibarbarei bis zum Letzten auf diese Weise vorgeführt zu bekommen. Tag für Tag beschrieben von einem, der als hellsichtiges Opfer zwar bereits 1933 Schlimmes ahnt, der aber doch nicht glauben will und kann, zu welchen Verbrechen sein geliebtes Deutschland fähig ist. Und der das schleichende Grauen protokolliert – nicht aus der Retrospektive, sondern als eine bis in scheinbar unwichtige Einzelheiten und Alltagserlebnisse notierte fortlaufende Chronik des Weges in eine ihm nicht vorstellbare Katastrophe – ohne dabei je zu wissen, wann und wie es enden wird. Zwischen Hoffnung und immer größer werdender Verzweiflung und dennoch mit einem – angesichts der Lebensumstände – kaum glaublichen analytischen Blick. Selbst in der immer größer werdenden Isolation, abgeschnitten von allen Medien, weiß Klemperer überraschend genau Bescheid. Er weiß von den KZs, weiß von den Vergasungen, weiß von Auschwitz. In seinem Elend, seiner zunehmenden Hoffnungslosigkeit wird er zum unermüdlichen Chronisten, der schreibt, um zu überleben, um „Zeugnis abzulegen bis zum letzten“. Und er tut es, trotz aller Gefahr, der er sich – und auch die, über die er schreibt – dadurch aussetzt.

Die Veröffentlichung von Klemperers Tagebüchern ist zweifellos ein literarisch-politisches Ereignis, das Buch ein „Jahrhundertwerk“ in ganz buchstäblichem Sinne (was auch das „literische Quartett“ vor einiger Zeit in seltener Einmütigkeit festgestellt hat). Deutschland hat wohl kein anderes Dokument, daß derart umfassend, eindrücklich und genau seine dunkelsten Jahre in diesem Jahrhundert dokumentiert. Kempowskis „Echolot“ mit seinem Collagestil mag ein verdienstvolles Unternehmen gewesen sein, das den nationalsozialistischen Alltag in seinem ganzen Spektrum zu erfassen versucht.

Klemperers Perspektive der unmittelbaren Erfahrung, seine Authentizität, seine ständigen Beobachtungen, Reflexionen und Diskussionen machen die Tagebücher zu einer Primärquelle, die auf das Innenleben der Menschen in der Nazizeit neues Licht wirft – auf das der Opfer, aber auch auf das der Täter, der Mitläufer, der Gleichgültigen. Denn auch sie bevölkern den Text zu Hunderten. Immer wieder werden sie und ihr Verhalten mit feinen Antennen analysiert, jede Veränderung wird registriert.

So erhellend ist der Text, daß sich die Frage aufdrängt, ob die „Aufarbeitung“ der Nazizeit im Nachkriegsdeutschland nicht vielleicht doch etwas anders verlaufen wäre, hätte man Klemperers Chronik bereits früher gekannt. Manche Mär über die Hitlerzeit wäre wohl nie entstanden, manche der (Über-)Lebenslügen, die die Nachkriegszeit so prägten, wäre angesichts dieses Textes einfach zerbröselt.

Die Lesung im Werkraum, bei der sich das gesamte Ensemble der Kammerspiele (über 40 Schauspieler einschließlich des Intendanten Dieter Dorn) alle Stunde abwechselt, scheint einen Nerv zu treffen. (Über Silvester hatte bereits ein Münchener Alternativsender – Radio Lora – Auszüge aus den Tagebüchern über mehrere Stunden verteilt vorgelesen.) Der Lesemarathon, das „Großereignis“ (SZ), ist im Laufe der Woche zum Publikumsrenner geworden. Selbst an den Vormittagen ist der Saal gut gefüllt. Ganze Schulklassen hören sich an, was der herzkranke, gedemütigte alte Professor im Dresdener „Judenhaus“ vor über 50 Jahren notierte. 10.000 Leute insgesamt, so rechnet man bei den Kammerspielen, haben bis Mittwoch Victor Klemperer gehört.

Nützt es was? Ja, es nützt. Allein die Beobachtungen zur „LTI“ (Lingua Tertii Imperii – Sprache des Dritten Reiches), die Klemperer immer wieder in seine Aufzeichnungen einstreut (und die er bereits 1947 als „Notizbuch eines Philologen“ veröffenlichte), schärfen den Blick für die kleinen, kaum merklichen Veränderungen, die doch in einer Katastrophe münden können.

„Worte können sein wie winzige Arsendosen, und nach einiger Zeit ist die Wirkung da.“ Worte können aber – Gott sei Dank – auch wie ein Impfstoff gegen Katastrophen wirken. In Klemperers Tagebüchern tun sie das. Lesungen wie die im Werkraum können die Wirkung noch steigern.

Victor Klemperer: „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933–1945“. Aufbau Verlag, Berlin 1995, 2 Bd., geb., 98 DM.

Ders.: „Zwiespältiger denn je, Dresdner Tagebuch 1945/Juni bis Dezember“. Dresdner Geschichtsverein e. V., 1995.

Ders.: „LTI – Notizbuch eines Philologen“. Reclam Bibliothek, Leipzig 1995.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen