■ Querspalte: Die Lawine rollt
Wer je eine Politikerrede in Papierform zu Gesicht bekam, kennt den obligaten Hinweis: „Es gilt das gesprochene Wort.“ Ein kluger Satz, ein barmherziger, denn nichts ist gnadenloser als das geschriebene Wort. Wie oft – wir gestehen – wären wir ob des eigenen geschriebenen Wortes am liebsten vor Scham unter den Teppich gekrochen, weil das, was gestern wahr war, zwar noch heute richtig ist, aber eben nicht mehr wahr.
Wie sehr verstehen wir da die Seelenpein eines Bonner Ministeriums, das einst – für teures Geld – eine Hochglanzbroschüre unters Volk schmeißen ließ: „Sozialhilfe, Ihr gutes Recht!“ Beim heiligen Seehofer, das klingt heute so aufrührerisch wie „Eigentum ist Diebstahl!“ oder „Macht kaputt, was euch kaputtmacht!“ Mindestens!
Eigentlich war's ja auch gar nicht so gemeint, mit der Sozialhilfe, aber es stand halt geschrieben, und nun haben wir den Salat. Irgendwann nämlich muß auch eine Diplomatin aus dem bettelarmen Somalia die Ministeriumsbroschüre in die Hand gekriegt haben. Jetzt klagt sie vor dem Bundesverwaltungsgericht ihr „gutes Recht“ ein.
Ganz schwindelig könnte einem werden, denkt man an die Kostenlawine: das Diplomatische Korps, ein einzig Heer von Sozialhilfeempfängern, Hilfe zum Lebensunterhalt, Miete für die Diplomatenvilla, Benzin für die Dienstlimousine, Kleidergeld für den Neujahrsempfang beim Bundespräsidenten!
Die Frau aus Somalia, sie befindet sich vielleicht wirklich in Not. Was aber, wenn auch andere darbende Damen von ihrem „guten Recht“ auf Sozialhilfe lesen? Ministerpräsidentengattinnen zum Beispiel, die ihr kärgliches Dasein mit den Almosen der Autoindustrie fristen? Die sich nicht einmal das Menschenrecht auf einen Opernballbesuch erfüllen können? Die zum Einkaufen – mutterseelenallein – im Privatjet bis nach Wien fliegen müssen? Wann endlich wird ein barmherziger Mensch der Frau Schröder die Adresse vom Sozialamt Hannover zustecken? Vera Gaserow
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