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■ Was die Wissenschaft alles über den Frühling weißAnregungen und Beziehungskrisen

Der Frühling ist die Übergangszeit vom Winter zum Sommer, sagen nüchtern die einen. Der Frühling ist viel mehr, schwärmen die anderen. Letzteres finden selbst die Heidelberger Universitätsprofessoren und -doktoren, obwohl ihnen der Frühling, rein wissenschaftlich betrachtet, ein ewiges Rätsel zu sein scheint – wahrscheinlich, weil er ihnen die sonst so klaren Sinne verwirrt. Denn das Sommersemester (das genau genommen „Frühlingssemester“ heißen müßte) hat nun mal einen anderen Reiz als das Studieren bei Kerzenlicht und Ofenwärme im Herbst und Winter.

„Wenn die Frühlingstriebe erwachen, ist vielleicht ein bißchen Mäßigung angesagt“, meint Dr. Dieter Eis vom Hygiene-Institut. Auch der Biochemiker Prof. Wolfgang Merz – rein vom Namen her prädestinierter Frühlingskundler – hat in seinem Seminarsaal „ausbrechende Turteleien“ registriert. „Überhaupt alle“ empfänden „mehr Anregungen“. Sonnenwärme und längeres Tageslicht aktivierten die Körperkräfte.

Wie macht er das bloß, der Frühling? Die Wissenschaft kapituliert (oder ist nicht interessiert). „Frühlingsgefühle sind nicht erforscht“, heißt es übereinstimmend aus Medizin, Endokrinologie, Psychologie. Prof. Heiner Schirmer vom Institut für Biochemie II fragt sich, ob diese besondere Stimmung, „die jeder spürt und die die Dichter so intensiv beschrieben haben“, physiologisch oder kulturell zu erklären ist.

Erst einmal die Frühlingsfakten: Frühlingsbeginn ist laut Dr. Gerhard Klare von der Landessternwarte „Definitionssache“. Am 21. März jedenfalls steht die Sonne genau auf dem Himmelsäquator. Der meteorologische Frühling beginnt dagegen schon am 1. März, weil dann die drei kältesten Monate des Jahres vorbei sind.

„Der ,Frühling‘ ist noch ziemlich jung“, weiß der Linguist Dr. Wilfried Seibicke. „,Lenz‘ ist das ältere Wort.“ Erst im 15. Jahrhundert tauchte das spätmittelhochdeutsche vrüelinc erstmals auf. Und das Wort „Frühjahr“ ist gar erst 300 Jahre alt.

Die Ankunft des Frühlings war im Mittelalter ein spontanes Fest wert, wie die Völkerkundler wissen. Auch heute noch werden Strohpuppen stellvertretend für den Winter ertränkt, gesteinigt oder verbrannt. Prof. Schirmer verbindet die europäischen Frühlingstraditionen mit gesundheitlichen Gründen. Der Aufenthalt im Freien und die leichtere Bekleidung bringt die ersten Sonnenstrahlen an die Haut und sollte früher die UV-Mangelerkrankung Rachitis verhindern. Daraus erklärt sich auch die „Ermutigung zu Frühjahrsgeburten durch Dichtung, Kultur und Kirche“.

Für den Frühling der Gegenwart geben die Heidelberger Wissenschaftler gern Tips. Sportwissenschaftler Dr. Gerhard Huber rät zur „Alltagsfitneß“. An die „Frühjahrsmüdigkeit“ glaubt er nicht: „Das ist wohl eher eine alltägliche Müdigkeit.“ Und laut Verkehrsmediziner Prof. Hans Joachim ist Autofahren im Frühling nicht gefährlicher als sonst.

Trotz aller gutgemeinten Ratschläge – das Frühlingsgeheimnis wird durch die Wissenschaft nicht gelüftet. Zwar läßt sich, so Prof. Merz, eine Reduzierung des „Nahrungstriebs“ zugunsten des „Sexualtriebs“ beobachten; bei den Tieren steuern das die Hormone, aber wie es genau beim Menschen funktioniert, weiß niemand.

Die „Anregungen“, von denen Prof. Merz spricht, und der verstärkte „Sexualtrieb“ können den Frühling allerdings auch gründlich vermiesen. Im Mai stürmen die Heidelberger Studierenden die psychotherapeutische Beratungsstelle: Sie stecken in Beziehungskrisen. Schönen Frühling! Sonja Striegl

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