: "Askin buradaki anlami?"
■ oder: Was heißt hier Liebe? Ein Plakat als Konfliktauslöser: Türkische Jugendliche orientieren sich an den Werten zweier Kulturen. Spezielle Sexualberatung als Hilfe
„Das ist eine Provokation, pädagogisch nicht richtig“, meint Ertekin Özcan, Koordinator des Türkischen Elternvereins in Berlin- Brandenburg. Er will das Plakat der Theatergruppe Rote Grütze, das mit zwei nackten Menschen für das Aufklärungsstück „Was heißt hier Liebe?“ wirbt, im türkischen Schülerladen nicht zur Diskussion stellen. Nicht etwa, weil er grundsätzlich gegen Sexualkundeunterricht wäre. „Als Elternvertreter an der Schule meiner Kinder habe ich die Erfahrung gemacht, daß da eher katholische Eltern Vorbehalte haben.“ Özcan befürchtet jedoch, daß einige der türkischen Kinder nicht mehr in den Laden kommen dürften, wenn sie ihren Eltern davon erzählen würden.
Das Nacktplakat sorgte letzte Woche für Wirbel, als Schulsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) den Aushang des Plakats in Schulen verboten hatte (die taz berichtete). Sie befürchtete, daß das Ehrgefühl muslimischer Schüler dadurch verletzt werden könnte. Auch Dorothee Ball-Erekul, Ärztin bei der türkischen Beratungsstelle Aids Danișma Merkezi (ADM), würde mit so einem Plakat nicht für ihre Aufklärungsarbeit werben. „Gerade im Umgang mit ausländischen Jugendlichen muß man berücksichtigen, wie das Gegenüber reagiert. Türkische Jugendliche sind es nicht gewohnt, über Sexualität zu reden.“ Zudem befürchtet sie, daß muslimische Eltern ihren Kindern den Theaterbesuch allein wegen des Plakats verbieten könnten. In ihren Gesprächen mit den Jugendlich rede sie aber offen.
Ihr Mitarbeiter Birol Ișik begrüßt jedoch die Provokation durch das Plakats als Konfliktauslöser. „Denn Sexualität ist nicht konfliktfrei. Es kann nicht sein, daß wir uns verhüllen müssen.“ Er befürchtet, daß die Ablehnung islamischen Fundamentalisten in die Hände spielt. „Es gibt einen Trend zur Islamisierung in Berlin.“ Ișik sieht in der türkischen Gesellschaft eine Spaltung zwischen den Religiösen und einer vom Wertewandel erfaßten Arbeiterschaft, die sich an zwei gegensätzlichen Kulturen orientiert. „Man hinterfragt nicht viel, man macht einfach“, beschreibt Ișik eine von Unwissenheit geprägte Doppelmoral, die männliche Privilegien betone. So bestehen Jungen auf der inoffiziell geduldeten Möglichkeit, sexuelle Erfahrungen zu sammeln, später aber eine Jungfrau zu heiraten. „Sonst schicken wir die wieder weg“, hört Dorothee Ball-Erekul immer wieder in ihren Gesprächen. So verwundert es kaum, daß das Jungfernhäutchen bei ihren Beratungen im Mittelpunkt steht. Die Angst, es könne beim ersten Mal nicht bluten, belastet die jungen Türkinnen. „Die Mädchen stehen unter einem unglaublichen Druck“, berichtet Ball-Erekul. „In Gruppengesprächen sagen einige, daß sie die traditionelle Keuschheit auch von sich selbst erwarten, einzeln fragen sie anschließend, ob ich als Ärztin das Jungfernhäutchen wiederherstellen könne.“ Entjungferte Mädchen sähen sich selbst als Nutte abgestempelt. Ball- Erekul trennt bei ihren Gesprächen die Schülergruppen von Anfang an nach Geschlecht, „weil sonst die Mädchen aus Scham gar nichts sagen“. Trotzdem wird der Keuschheitsanspruch nur zaghaft in Frage gestellt. Bei vielen Mädchen hat die Ärztin den Eindruck, sie seien lieber still, um sich keine Blöße zu geben. Andere haben die Moral so weit verinnerlicht, daß sie unabhängig von äußerlicher Traditionstreue Gespräche über Sexualität rundweg ablehnen. So wollte ein Mädchen ohne Kopftuch lieber warten, bis ihm sein Ehemann zeige, was es wissen müsse. „Umgekehrt begegne ich unterm Kopftuch häufig munteren und fortschrittlichen Gedanken.“ Einig sind sich die Mädchen nur, daß sie sich ihre Partner selbst aussuchen wollen. Die Verheiratung in die Türkei gibt es immer noch häufig.
„Homosexualität ist unter Berliner Türken nur Thema, weil es unter Deutschen Thema ist“, meint Birol Ișik, „sie wird allerdings abgelehnt.“ Es würde aber zwischen aktiver und passiver Rolle unterschieden. „Nicht Schwulsein ist das Schlimmste, sondern Frausein“, gibt Ball-Erekul eine Sichtweise unter Türken wieder. Auch von Aids fühlen sich viele nicht betroffen. „Strenge Muslime berufen sich da auf ihre Hygiene- und Treuevorschriften“, bedauert Ball-Erekul die Unkenntnis. Zunehmend erhält sie Anrufe von besorgten Männern, die nach einem Seitensprung eine Infizierung befürchten.
Im Grunde tauchen die Konflikte muslimischer Jugendlicher in allen patriarchalen Kulturen auf. „Das ist vergleichbar mit den Problemen katholischer Jugendlicher“, meint Barbara Krajewska, die beim ADM Beratungen in polnischer Sprache gibt. Den Streit um das Theaterplakat sieht Dorothee Ball-Erekul daher auch positiv. „Es ist gut, wenn wir Deutschen gucken, mit wem wir hier zusammenleben und wen wir eventuell verletzen.“ Denn ohne Respekt für den anderen könne man dessen Moralvorstelungen auch nicht in Frage stellen. Gereon Asmuth
Die ADM bietet eine Gesundheits- und Aidsberatung für Migranten in 16 Sprachen an. Tel. 6153232
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