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■ Ein Gespräch mit dem Ethnopsychoanalytiker Paul Parin, aufgezeichnet von Thomas Schmid und Ute Scheub. Für Parin ist der Fortschritt der Menschheit..."Eine liegende Spirale"

taz: Herr Parin, gibt es einen zivilisatorischen Fortschritt in der Menschheitsgeschichte?

Paul Parin: Als ich ein junger Assistenzarzt in der Neurologischen Poliklinik in Zürich war, hatte ich einen hervorragenden Chef, Dr. Erich Katzenstein. Mit dem diskutierte ich einmal über den Fortschritt. Ich erwähnte, daß die Spirale in der marxistischen Philosophie eine Rolle spielt: Geschichte wiederholt sich, aber nicht auf der selben Ebene. Da antwortete er recht ärgerlich: Parin, wer sagt Ihnen, daß diese Spirale steht? Die liegt doch!

Es kommt natürlich auf die Kriterien an, die Sie anlegen. Bei der technischen Entwicklung erleben wir sogar eine Beschleunigung. Aber ist dieses Weiterschreiten ein Fortschritt? Ich fühle mich ideologisch gebunden an das Gedankengut der Aufklärung, das mit der amerikanischen Verfassung und der französischen Revolution in weiten Teilen der Welt Allgemeingut wurde. Gemessen an dem gibt es keinen Fortschritt! Gemessen an meiner eigenen Lebenszeit auch nicht: Es waren zwar ungeheure Erleichterungen, daß der Nationalsozialismus besiegt wurde und später dank Gorbatschow die Gefahr eines Atomkriegs zurückging. Aber ich habe zwei Weltkriege und den Faschismus erlebt, und die sogenannte neue Weltordnung läßt sich sehr schlecht an.

Sie kennen ja sicherlich die Kontroverse zwischen Norbert Elias und Hans-Peter Duerr. Elias hat in seinen Büchern nachgezeichnet, was man zivilisatorischen Fortschritt nennen könnte: Die Menschen, die im Mittelalter noch ohne Scham mit den Händen aßen, rülpsten, furzten, lernten immer genauer, ihre Körperfunktionen, Triebe, Aggressionen zu beherrschen. Duerr vertritt hingegen, ein solcher Fortschritt sei nicht sichtbar, das Potential der Gewalt sei unvermindert.

Duerr ist ein liebenswürdiger wissenschaftlicher Narr. Bei Elias, der ja vor allem Geschichtsphilosoph war, ist die Sache mit der Triebkontrolle im übrigen so klar nicht formuliert. Erst Sigmund Freud hat die Triebunterdrückung als Ursache des Unbehagens in der Kultur dargestellt. Ich zitiere sinngemäß aus Freuds letzter Schrift: Es ist fraglich, ob sich eine Zivilisation, die so viel Triebunterdrückung verlangt, überhaupt halten kann und ob sie das überhaupt verdient. Deswegen ist keineswegs klar, daß in der von Elias untersuchten Geschichte ein Fortschritt innewohnt. Freud hat das unter dem Eindruck des aufkommenden Nationalsozialismus geschrieben.

Aber der Nationalsozialismus ist das Gegenteil von Triebbeherrschung. Er ist das organisierte Ausleben sadistischer Triebe.

Es war ein Charakteristikum des Nazi-Staates, daß er die Triebe zu bestimmten Zwecken organisierte – von der Zuchtanstalt für arische Menschen bis zur Mobilisierung von Aggressionen bei den harmlosesten Hausfrauen und den pensioniertesten Greisen.

Aber wieso sind diese Triebe so leicht mobilisierbar? Wenn Elias recht hat, dann müßten wir doch eigentlich ein zivilisatorisches Polster haben. Daß dieses nicht existiert, zeigt nicht nur das Dritte Reich, sondern auch der Krieg in Bosnien oder Ruanda.

Über Ruanda weiß ich zuwenig. In Bosnien kenne ich mich wesentlich besser aus. Ein Regime wie das Serbiens, das einen solchen Krieg von langer Hand plant, dennoch aber bestimmte demokratische Strukturen wie das Parlament oder da und dort oppositionelle Stimmen weiterhin zuläßt, bestätigt Norbert Elias indirekt: Die zivilisatorische Fassade wird aufrechterhalten, auch wenn oder gerade weil darunter nackter Terror herrscht. Ich spreche hier gerne von Fassadendemokratie.

Das erklärt aber noch nicht, warum in Bosnien und in Ruanda das Tötungstabu massenhaft verletzt wurde, warum Nachbarn Nachbarn verraten, Freunde Freunde niedermetzeln, Verwandte Verwandte umbringen.

Viele gescheite Leute behaupten, die Welt erlebe eine allgemeine Aggressivierung. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Den massenhaften Verrat von Freunden und Verwandten haben wir leider auch schon im Nationalsozialismus erlebt. Otto Loewi, österreichischer Nobelpreisträger für Physiologie, wurde einen Tag nach dem Einmarsch der Deutschen in seiner Grazer Villa verhaftet, weil er vom Sohn seines liebsten Fakultätskollegen verraten worden war. Zum Glück konnte er am Ende doch noch gerettet werden.

Daß selbst in den gebildesten Schichten die nächsten Freunde verraten wurden, ist kein Trost!

Ich glaube nicht, daß das ein Phänomen der Moderne ist. In Bosnien wiederholt sich das nur. Der BBC-Korrespondent Misha Glenny geriet einmal in eine serbische Kontrolle. Dabei sah er einen serbischen Polizisten an der Grenze zu Bosnien stehen. Er fragte ihn: Ist es nicht schlimm, auf Nachbarn zu schießen? Und dieser antwortete: Das waren gute Kollegen von mir, wir spielten zusammen Fußball. Seit ich aber weiß, daß die uns alle umbringen wollen, möchte ich jeden einzelnen von ihnen persönlich erschießen. Er war voll auf die Fernsehpropaganda hereingefallen.

Aus Jugendbanden oder auch extremistischen Parteien ist bekannt, daß die Aggressionen gegen den Feind geringer sind als gegen sogenannte Verräter aus den eigenen Reihen. In der palästinensischen Intifada waren die Grausamkeiten gegenüber vermeintlichen oder tatsächlichen Kollaborateuren sehr viel größer als die gegenüber der israelischen Polizei. Das nur als psychologische Fußnote.

Fußnote? Das scheint mir ein zentrales Moment für die Erklärung der Niederlage der sozialistischen Bewegung zu sein. Wenn die KPD nicht die SPD zum Verräter und Hauptfeind erklärt hätte, hätte es Hitler viel schwerer gehabt. Wenn die sowjetischen Kommunisten nicht vor allem damit beschäftigt gewesen wären, Verräter zu suchen und zu finden, hätten sie mehr aus ihrer Revolution machen können. Auch heute richtet sich der Kampfreflex vieler Linker viel mehr gegen die Sozis als gegen die offenen Reaktionäre.

Sie haben recht und nicht recht. Der einfache Bauernsohn glaubt tatsächlich, die Mosleme oder die Tutsi wollen alle umbringen.

Aber warum glaubt er dem Fernsehen mehr als seinen eigenen Sinnen? Er kennt seinen Nachbarn, er hat immer mit ihm geschwatzt. Weshalb sind für ihn die Fernsehbilder plötzlich wirklicher als die Wirklichkeit?

Da möchte ich Nietzsche zitieren: „Die Erinnerung sagt: So ist es gewesen. Der Stolz sagt: So kann es nicht gewesen sein. Schließlich gibt die Erinnerung nach.“ Wenn Sie einen Text lesen, müssen Sie die Wortsymbole in Vorstellungen übersetzen, erst dann kommen Emotionen hoch. Wenn Sie Fernsehen sehen, haben Sie sofort ein inneres Bild und damit verbundene Gefühle. Die Wirkung des Fernsehens ist viel direkter. Deshalb auch setzte der serbische Präsident Milošević als erstes daran, das staatliche Fernsehen zu erobern und als Propagandainstrument umzubauen.

Die Medien haben zwar den Auftrag aufzuklären, tun das aber immer seltener. Die Bedeutungen, die sie schaffen, nehmen oft ein gefährliches Eigenleben an: nehmen Sie das Wort „Bürgerkrieg“.

Das war ein Verdunkelungsbegriff, der vermutlich in Belgrad kreiert und sofort vom Westen übernommen wurde. Der Begriff suggeriert: Man darf sich nicht einmischen. Rein formal war auch die deutsche Judenvernichtung ein Bürgerkrieg.

War die Disposition, die anderen als Feinde zu sehen, die liquidiert werden müssen, bei der serbischen Bevölkerung größer als bei der kroatischen oder muslimischen?

Diese Disposition scheint bei fast allen Völkern und Kulturen vorhanden zu sein. Dennoch habe ich den Eindruck, daß in Montenegro und Serbien der Hang zum ultranationalen, mythisch untermauerten Denken größer ist als in anderen Teilen Ex-Jugoslawiens. Es ist eine kriegerische Bevölkerung. Die Montenegriner kenne ich sehr gut, im Zweiten Weltkrieg habe ich dort als Arzt in einem Spital gearbeitet. Übrigens waren sie die sympathischsten Patienten, die ich je in meinem Leben hatte. Diese Kämpfer haben sich im Krieg eine enorme Selbständigkeit angewöhnen müssen. Aber schon die kleinen Jungen wurden als Krieger erzogen. Jungen galten als viel wertvoller als Mädchen. Ein deutscher Arzt und Geburtshelfer hat mir damals erzählt: Wenn er einem Knaben auf die Welt geholfen hat, gab es ein riesiges Fest, wenn es ein Mädchen war, mußte er sich wegstehlen, wenn er nicht verprügelt werden wollte. Und noch in den 80er Jahren galt einer, der im Militärdienst versagte, als kein richtiger Mann – bei seiner Familie wie bei seiner Braut. In Slowenien und Dalmatien hingegen geht man genauso ungern zum Militär wie in der Schweiz oder in Deutschland.

Sie sagten: Die Disposition scheint in fast allen Kulturen vorhanden zu sein. In welchen nicht?

Mir scheint, daß die protestantischen Kulturen, in denen stark verinnerlichte Ideale vorhanden sind, davor besser geschützt sind: Schweden, Dänemark, der englischsprachige Teil von Kanada.

Und Holland?

Ich liebe Holland sehr, aber ich bin da nicht so sicher. Vielleicht kenne ich die holländische Kolonialgeschichte zu gut. Der radikale Calvinismus kann grausam sein.

Und weiblich geprägte Kulturen?

Vielleicht gab es das berühmte Matriarchat, auf jeden Fall gab es egalitäre, symmetrische Kulturen, in denen Frauen rechtlich und politisch gleichgestellt waren, wenn auch nicht unbedingt institutionell. Symmetrie herrschte – jedenfalls bis zur Unterwerfung unter die britischen Kolonisatoren – bei den Ibo, die später im Biafra-Krieg traurige Berühmtheit erlangten. Es gab dort einen König und eine Königin, die weder verwandt noch verheiratet waren und über verschiedene Gebiete herrschten. Wirtschaft und Markt war das Monopol der Frauen und unterstanden der Königin. Als die britischen Kolonisatoren Marktsteuern erheben wollten, brach ein Aufstand los. In der britischen Geschichte taucht er nur als „Ibo Riots“ auf, in der Ibo-Sprache heißt er „der Krieg der Frauen“. Nachdem es viele Tote gab, schickten die Engländer eine Untersuchungskommission los. Die stellte fest, daß die Hütten der Steuereintreiber angezündet und nicht wenige dieser Eintreiber ermordet worden waren. Verwundert notierte sie, es seien ausschließlich Frauen beteiligt gewesen, es gebe keine männlichen Täter. Da aber Frauen zu einem Aufstand gar nicht fähig seien, müsse man annehmen, daß die Männer sie aufgehetzt hätten.

Nicht einmal die Schlechtigkeiten lassen die Männer uns! Woher kommt eigentlich der Begriff der „ethnischen Säuberung“?

Es gibt keine ultranationale oder rassistische Theorie, die nicht von diesem Sauberkeitswahn durchdrungen ist. Hinter der Vernichtung der Dörfer und Moscheen steht der Gedanke: Der Boden muß sauber werden für die heilige serbische Nation. Der Ausdruck „ethnische Säuberung“ ist in diesem Krieg erfunden worden, aber der Reinigungswahn ist uralt. Das Minderwertige gilt als schmutzig, als Scheiße, als ekelhaft.

Das verweist auf den Analcharakter. Als Mitbegründer der Ethnopsychoanalyse wurden Sie mit Ihrem Buch „Die Weißen denken zuviel“ bekannt, in dem Sie und Ihre Frau von Ihren gemeinsamen psychoanalytischen Gesprächen mit westafrikanischen Dogon berichten. Diese aber, so schreiben Sie, kennen gar keine anale Phase.

Nicht genau. Es gibt keine anale Dressur, die Kinder werden bis zu drei Jahre lang an den Leib der Mütter festgebunden und erledigen ihr Geschäft in das Tuch, was die Mütter ohne Ekel zur Kenntnis nehmen. Die anale Phase hinterläßt andere Spuren in der Persönlichkeit. Die vorherrschende Haltung ist: Das ist deine Scheiße, die kannst du erledigen, wie du willst.

Könnte das heißen, daß eine Kultur ohne anale Dressur widerstandsfähiger gegen faschistische Vorstellungen ist?

Wenn Wissenschaftler Optimismus brauchen, dann schreiben sie solche Sachen. Das sind alles solche multifaktoriellen Zusammenhänge. Nachweisen können die Historiker nur, daß die Dogon sehr widerstandsfähig waren gegen kriegerische Ideen, gegen den Islam oder auch die Franzosen. Als diese ihre Kinder wegführen und zu Rekruten ausbilden wollten, zettelten sie ihre erste Revolte an. Die Franzosen mußten nachgeben.

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