: Samsung – Sicherheit bis zur Rente
Oberschöneweide im Berliner Spreeknie ist eine Hochburg der Arbeitslosigkeit geworden. Alte Betriebe sind zerschlagen, neue haben es schwer, Fuß zu fassen. Die Standortprobleme beobachtete ■ Helmut Höge
Oberschweineöde, so nannten die Arbeiter das Industriegebiet Oberschöneweide im Berliner Bezirksteil Köpenick zu DDR-Zeiten. Heute ist es dort noch öder: Viele Läden stehen leer, Häuser sind „ausgewohnt“ und vernagelt. Das Fabrikgelände an der Spree entstand um die Jahrhundertwende, als Emil Rathenau neue AEG-Fabriken auf der damals noch grünen Wiese errichten ließ. 1914 baute ihm dort der Architekt Peter Behrens ein Autowerk – die Nationale Automobil Gesellschaft (NAG).
An der einen Seite wurde Oberschöneweide von Flußschiffen versorgt, auf der anderen von der Wilhelminenhofstraße: mit Eisen- und Straßenbahn-Gleisen und einem Dutzend Schichtarbeiterkneipen vis à vis den Fabriktoren. Nach der Wende und dem Rückgang der Produktionszeit auf eine Schicht mußten die meisten schließen. Die Treuhandanstalt verkaufte zügig die auf ihre vermeintlichen Kerngeschäfte reduzierten Großbetriebe.
Den Anfang machte die AEG, die – obwohl inzwischen selbst eine von Abwicklung erfaßte Tochterfirma der Daimler-Benz AG – von der Treuhand das für sie wenig sinnvolle Transformatorenwerk (TRO) wiedererwarb. Sie investierte 46 Millionen Mark Fördermittel. Die übernommenen 700 Mitarbeiter wähnten sich fast verbeamtet.
Seit Jahresanfang wissen die „Trojaner“, daß die AEG sich verpflichtete, den Transformatorenbau in Oberschöneweide stillzulegen, bevor die „GEC Alsthom“, eine Tochterfirma des französischen Konzerns Alcatel, sie übernimmt. Es heißt, es gebe eine „TR- Vernichtungsklausel“ im Kaufvertrag. Seitdem kämpft der Betriebsrat für eine vom Senat und vom Arbeitsamt mit zu finanzierende „Auffanggesellschaft“.
Das Institut für Nachrichtentechnik (INT) nebenan hatte 1992 die deutsche Alcatel-Tochter „Standard Elektrik Lorenz“ (SEL) erworben. Dort stehen demnächst weitere Massenentlassungen an. Das Gebäude bekam ein Immobilienhändler, der neue Firmen, darunter eine Spielhalle und einen Billardsalon, ansiedelte.
Dahinter stand einst das Innovations- und Gewerbezentrum von Halbzeugzulieferern – mit hohen Synergieeffekten. So hoch, daß die DDR-Regierung es in den fünfziger Jahren kurzerhand zu einem volkseigenen Betrieb – „Berliner Metall- und Halbzeugwerke“ (BMHW) – zusammenfaßte. Der wurde 1990 von der Treuhand ganz abgewickelt. Getränke-Hoffmann und Aldi errichteten dort einen Supermarkt.
Weiter flußabwärts besaß das TRO-Werk noch ein zweites Betriebsgelände, das die Berliner Landesentwicklungs-Gesellschaft (BLEG) von der Treuhand kaufte, um es neu zu entwickeln. Die BLEG gehört zur einen Hälfte dem Land Berlin und zur anderen der Landesbank. Auf diesem „Gewerbegebiet Tabbert-/Nalepastraße“ ist die Hälfte der Grundstücke bereits weiterverkauft: an einen Papierfabrikanten, einen Filmhersteller, einen medizintechnischen Betrieb, einen Maschinenbauer und eine Textildruckerei.
An der entgegengesetzten, der südöstlichen Seite des TRO-Werkes stehen die zum Teil denkmalgeschützten Hallen der Kabelwerke Oberspree (KWO). Sie wurden 1992 von der British Callendar Company (BICC) erworben, obwohl es bereits große Überkapazitäten in der europäischen Kabelproduktion und besonders in Berlin gab.
Die für die BICC nicht mehr betriebsnotwendigen KWO- Grundstücke und Gebäude erwarb die BLEG 1993. Aus drei der ehemaligen KWO- Gebäude entsteht dort das Handwerks- und Gewerbezentrum „Wilhelminenhof“. Die Räume werden bereits jetzt – für 12,50 Mark pro Quadratmeter – vermietet. Die Betreiber rechnen mit einer Warteliste. Große Teile des Geländes sind seit dem Ersten Weltkrieg arsenverseucht, von daher besteht die Gefahr einer Grundwasservergiftung. Die BLEG hat erst einmal mehrere „Sanierungsbrunnen“ zur Boden-Luft-Reinigung aufgestellt. Einen Teil des Ufergrundstücks wird sie in öffentliches Grünland umwandeln, statt es teuer abtragen zu lassen.
In der von der BLEG erworbenen „Rathenau-Villa“ haben sich einige mit der Gesamtenwicklung des „Industrie- und Gewerbegebietes Spreeknie“ betraute Ingenieur- und Architekturbüros eingemietet.
Ein weiterer öffentlicher Zugang zum Fluß entsteht zwischen dem TRO- und dem KWO-Werk, wo erneut eine Fußgängerbrücke – der Kaisersteg – über die Spree geplant ist, davor ein sogenannter „Stadtplatz“ mit Läden, Wohnungen, Sozialeinrichtungen. Dieses Gelände gehört zur Hälfte dem Bezirk Köpenick und zur anderen der Treuhand-Liegenschaftsgesellschaft, die neuerdings auch mit „Development“-Aufgaben liebäugelt.
Während die europäischen Elektrokonzerne sich am Spreeknie zurückziehen, treten die Staatsbetriebe dort in Planungs- und Entwicklungskonkurrenz. Ihre „Visionen“ sind bescheidener geworden: Die ersten Pläne sahen 1992 noch pompöse Yachthäfen vor. Selbst die Arbeiterkneipen waren davon angesteckt: So ließ sich der Zapfer der „Sportklause“ („Sporti“) zur Fortbildung nach Las Vegas schicken, um sich Inspirationen für seine HO-Kneipe zu holen. Als er zurückkam, hatte seine Frau schon Konkurs angemeldet.
Auf der anderen Seite der Wilhelminenhofstraße steht das Batteriewerk BAE. Ein Teil dieses Betriebes ist, nachdem sich ein Joint-venture mit Varta zerschlagen hatte, von seinen leitenden Angestellten privatisiert. Die Geschäftsführung residiert in der „Quandt-Villa“. Und im alten Verwaltungsgebäude betreibt der Köpenicker Alkoholikerkreis ein „WAS-Haus“ („Wohnen-Arbeit- Sucht“).
Das riesige BAE-Kulturhaus mit Theatersaal steht leer. 1994 beherbergte es ein kurdisches Kulturzentrum, das sich aber in dieser deutsch-proletarischen Gegend nicht lange halten konnte. 80 Prozent der Bewohner sind Sozialhilfeempfänger, ergab jüngst eine Kundenstudie der Supermarktkette „Kaiser's“. Die Filialleiterin schaffte den Langen Donnerstag wieder ab. Das Gelände des Batteriewerkes ist stark bleiverseucht.
Der größte Betrieb im Spreeknie war zu DDR-Zeiten die NAG – das Werk für Fernsehelektronik (WF). 1992 erwarb es der koreanische Konzern Samsung. Er verpflichtete sich, tausend der vormals zehntausend Leute weiter zu beschäftigen und 50 Millionen Mark zu investieren. Beide Vorgaben hatte er bereits Anfang 1995 deutlich überschritten. Dazu ließ die Geschäftsführung die Kantine modernisieren, einen Park anlegen, richtete ein Fitneßzentrum und ein „Duty Free“-Warenhaus ein. Demnächst wird noch eine zweite Kantine sowie eine dritte Produktionslinie in Betrieb genommen.
Die Belegschaft ist wohl als einzige im Spreeknie mit ihrer Geschäftsleitung zufrieden, obwohl der Betriebsrat 1995 einer Regelung zur dreischichtigen Wochenendarbeit zustimmen mußte. Das liegt auch daran, daß sie in den letzten drei Jahren – und nicht zuletzt auf Lehrgängen in Seoul – den Eindruck gewann, daß Samsung trotz aller möglichen Expansionsbehinderungen, durch deutsche Konkurrenten etwa, „an einem längerfristigen Engagement in Deutschland und auch an der Farbbildröhrenfertigung in Oberschöneweide festhält“. Dazu der Betriebsratsvorsitzende Wolfgang Kippel: „Wer es schafft, bei Samsung reinzukommen, der verläßt den Betrieb als Rentner.“
Der Hang koreanischer Konzernherren zur Übernahme von Totalverantwortung für ihre Mitarbeiter scheint hier aufs schönste mit dem im Osten ausgeprägten Wunsch nach einer lebenslänglichen Arbeitsplatzsicherheit zu harmonieren. Beim WF kommt dazu noch die Bescheidenheit des seit einem Jahr als Präsident eingesetzten „Samsung-Man“ In Kim. Er trägt stets eine Art asiatisches FDJ-Hemd und reiht sich wie alle in die Essensschlange der Kantine ein. Dort gibt es auch koreanische Gerichte. In Kim sieht eine Bestätigung für die Richtigkeit seines Führungsstils auch darin, daß, obwohl nur zwanzig Koreaner im Werk arbeiten, inzwischen „über achtzig koreanische Gerichte täglich“ verspeist werden. Tendenz steigend.
Auf der anderen Straßenseite besaß das alte WF einen weiteren Betriebsteil, den es gleich nach der Wende aufgab. Er gehört heute ebenfalls der BLEG, die dort ein „Technologie- und Gründerzentrum Spreeknie“ (TGS) errichten wird. Schon jetzt haben sich dort sechs ausgegründete WF-angesiedelt. Sie wurden zunächst von einer „Entwicklungs- und Qualifizierungsgesellschaft“ betreut und mit ABM-Stellen betrieben. Dazu kommen vier neue Firmen. Es gibt weitere Pachtinteressenten. Einer Recyclingfirma widerfuhr allerdings gerade die Zerschlagung eines Großauftrags von Siemens. der Münchner Konzern war der Ansicht, daß die Pruduktionsbedingungen am Standort Oberschöneweide allzu provisorisch seien.
Der IEA-Elektrokartell-Führer Siemens vermasselte auch Samsung eine vielversprechende Akquise: Nachdem die Koreaner 1995 ihr Interesse an dem in finanziellen Schwierigkeiten steckenden ostdeutschen Ökokühlschrank-Hersteller Foron bekundet hatten, teilte Siemens ihnen mit, sie würden das als unfreundlichen Akt ansehen: Samsung zog seine Kaufofferte zurück. In den derzeit noch halb leerstehenden Behrens-Bau – dem Wahrzeichen von Oberschöneweide, in dem sich bis 1994 das Technikmuseum des WF befand (unter anderem waren dort Störsender gegen den Rias und ein besenschrankgroßer Mikrowellenherd aus dem Jahr 1962 ausgestellt) – sollte eigentlich die neue Samsung-Europazentrale einziehen. Hierbei kam dem Bemühen des Berliner Senats aber der englische Wirtschaftsminister zuvor, der viermal nach Seoul reiste: Dann entschieden sich die Koreaner für London statt Berlin. WF- Präsident In Kim geht jetzt davon aus, daß die Deutschland-Zentrale von Frankfurt am Main in den Behrens-Bau zieht, dazu die Vertriebszentrale für einen neuen Samsung-Mittelklassewagen, der ab 1998 in Europa verkauft wird. Damit würde am Spreeknie wieder ein Auto-Hersteller ansässig.
Gegenüber von Samsung, zwischen der Batteriefabrik (BAE) und dem Technologie- und Gewerbegebiet Spreeknie (TGS), liegt noch ein kleines Wohnquartier, das die BAE-Geschäftsführung 1994 miterwarb, weil dort zumeist BAE-Beschäftigte eingemietet und an die „Giftbude“ nebenan gewöhnt waren. Außerdem konnten einige Mieter die eigenhändige Umwandlung des bleiverseuchten und versiegelten Hinterhofs in einen blühenden Garten mit Karpfenteich und Grillplatz bis 1991 über den Betrieb abrechnen. Danach gab ihnen das Bezirksamt noch ein „Begrünungsgeld“ von 100.000 Mark. Seitdem drehen im beleuchteten Teich japanische Designerkarpfen (Kois) ihre Runden. Die zum großen Teil arbeitslos gewordenen Mieter schauen ihnen von ihrer skobalitüberdachten Hinterhofveranda aus zu – und trinken Bier.
Dabei kam einem – der zuletzt als Betriebsrat im BAE einen Hungerstreik organisierte – die Idee, in die Politik zu gehen. Obwohl Mitbegründer der SPD im Osten, kandidierte Peter Hartmann als Bundestagskandidat für die PDS, sein Wahlbüro eröffnete er im kurdischen Kulturzentrum: Er kam als Nachrücker für Stefan Heym tatsächlich ins Parlament. Seitdem berichtet er seiner Hinterhofrunde, was in Bonn so alles diskutiert wird: Bisher waren das die „Kakaopreise auf dem Weltmarkt“, die „Klitorisbeschneidung im Zusammenhang der Menschenrechte“ und die „neue europäische Rebstock-Verordnung“. Anfangs war er sich noch unsicher: „Wie kann ich das bloß meinen Leuten in Oberschöneweide vermitteln?“ Inzwischen haben seine Kumpel ihren Gefallen daran gefunden: „Unser Horizont hat sich enorm erweitert.“
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