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Jan Philipp Reemtsma hat sich durch die 30 Millionen Mark Lösegeld an seine Entführer gewiß nicht ruiniert. Aber das Bemerkenswerte an Reemtsma ist nicht sein Reichtum. Die Projekte, die er fördert, verweisen auf die linke Sozialisation.

Jan Philipp Reemtsma hat sich durch die 30 Millionen Mark Lösegeld an seine Entführer gewiß nicht ruiniert. Aber das Bemerkenswerte an Reemtsma ist nicht sein Reichtum. Die Projekte, die er fördert, verweisen auf die linke Sozialisation.

Der Heizer auf der Kommandobrücke

Nun hat nicht nur Jan Philipp Reemtsmas Qual, sondern auch die der Medien ein Ende. Nach fünfwöchiger widernatürlicher Enthaltsamkeit dürfen wir die Rettung des Multimillionärs, Mäzens und Wissenschaftlers aus der Hand seiner Entführer melden. Reemtsma ist mit seiner Familie längst am Ort der Rekonvaleszenz, die Gangster schleppen sich am Lösegeld, die Polizei verliest ein artiges Dankschreiben des Entführten und stellt die baldige Ergreifung der Bösewichter in Aussicht. Die Journalisten aber, bereichert durch die unfreiwillige Lektüre von Reemtsmas Schriften, drücken erleichtert auf die Taste mit den vorfabrizierten Portraits.

Jan Philipp Reemtsma (43) hat sich durch die Zahlung des Lösegeldes gewiß nicht ruiniert. Sein Vermögen liegt nach der Schätzung von Leuten, die es wissen sollten, irgendwo zwischen 600 Millionen und einer Milliarde Mark. Bemerkenswert ist der Mann nicht wegen seines entführungsfördernden Reichtums, sondern gerade in dem, worin er sich von anderen betuchten zeitgenössischen Kidnapping-Opfern unterscheidet. Reemtsma gehört der aussterbenden Spezies des Privatgelehrten an. Er streut nicht nur über seine „Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur“ Stipendien und Subsidien an den wissenschaftlich- künstlerischen Nachwuchs aus. Er finanziert nicht nur wichtige Archive und Editionen. Er hat sich auch, zusammen mit seiner Wissenschaftlercrew, ein eigenes Feld theoretisch erschlossen. Den Leuten vom Institut am Mittelweg geht es vor allem um die Aufhellung der Nachtseite unseres Zivilisationsprozesses, um Gewalt und Destruktivität im 20. Jahrhundert.

Ein Blick auf die Arbeitsbereiche und Forschungsberichte des von ihm 1984 gegründeten „Hamburger Instituts für Sozialforschung“ macht diese Haupttendenz deutlich. Das Institut erarbeitete in den letzten Jahren Ausstellungen, Studien und Materialbände zu den Verbrechen der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, zur Bevölkerungspolitik der Nazis, zur Geschichte des Atombombenabwurfs über Hiroshima, zum sowjetischen Gulag, zum Staatsterrorismus (nicht nur) in der Dritten Welt), zur Folter und deren Spätfolgen. Es untersucht die sozialen Grundlagen der Wissenschaftsproduktion am Beispiel der Genetik, es hat, mit vier laufenden Projekten, einen neuen Arbeitsbereich für Nationalismus, Ethnizität und Fremdenfeindlichkeit eingerichtet. Und es widmet sich der Geschichte der Protestbewegungen in der Bundesrepublik Deutschland.

Gerade dieses letzte Projekt verweist auf die linke Sozialisation Reemtsmas, mit der er freilich längst abgerechnet hat – zuletzt in einem scharfsinnigen Vortrag von 1991 „Sozialpolitische Gedanken zur Architektur einer Ruine“. Es wäre sicher zu einfach, wollte man Reemtsmas Besessenheit vom Thema der Gewalt mit seiner Herkunft erklären: mit der Nähe seines Vaters und Onkels zu Hermann Görings Hofstaat. Aber daß er, kaum im Besitz der Mehrheitsbeteiligung am Reemtsma-Konzern, denselben verscheuerte, hat sicher eine Wurzel in dieser biographischen Konstellation.

Reemtsma liebt Arno Schmidt, den großen Eigenbrötler und Exzentriker, auch um seiner Gegenwartsprognose willen. Über Schmidts Kritik westdeutscher Verhältnisse schrieb er: „Das Beieinander – die hohle Feiertagsrhetorik bundesrepublikanischer Offizialität mit der banalen landserhaften Bestialität recht auf dem Sprung – ergäbe ... ein boshaft-satirisches Gemälde der deutschen Wirklichkeit.“ Reemtsma hat Schmidt eine Art privaten Nobelpreis verliehen, ein Archiv seiner Werke eingerichtet und sich um die Herausgabe der unveröffentlichten Schriften bemüht.

Exgenosse Reemtsma, der ehemalige Sympathisant der trotzkistischen GIM (Gruppe internationaler Marxisten), war stets weitherzig, was die sich ausschließenden Spezialitäten der deutschen Linken anlangte. Im Gründerkreis des Hamburger Instituts hatte Alice Schwarzer einträchtig neben Ernest Mandel Platz genommen. Diese Toleranz hat sich der „Nacht und Nebel“-Theoretiker Reemtsma erhalten.

Anders als beispielsweise der Clan der Rockefeller oder der Fords, die ihre Stiftungen „objektivierten“ und sich tunlichst jedes Einflusses auf die Verteilung der Gelder enthielten, hat es Jan Philipp Reemtsma bis heute nicht fertiggebracht, sich von seinen wissenschaftlichen Spielzeugen zu trennen. Er schreibt Einleitungen zu Arbeiten „seines“ Instituts, hält Vorträge zu den dort bearbeiteten Themen, verteilt Preise, stellt wissenschaftliche Mitarbeiter ein und schreckt nicht einmal davor zurück, sich durch den täglichen Berg der Bittgesuche und Anträge zu wühlen. Ein Heizer, der gleichzeitig auf der Kommandobrücke des Institutsschiffchens steht.

Dennoch können die Mitarbeiter des Instituts der Rückkehr ihres Chefs ohne jedes Angstschlottern entgegensehen. Reemtsma mischt sich nicht ein, zieht nicht die Augenbrauen hoch. Mit überraschenden Einladungen zum Abendessen hat keiner der von ihm Angestellten zu rechnen.

Die Fortexistenz des Instituts ist auch ohne seinen Chef über Jahre hinaus gesichert. Bezahlt werden die Mitarbeiter nach BAT, mit einem Sonderbonus für alle, denen ein Ruf an die Universität ins Haus steht. Denn das Hamburger „Institut für Sozialforschung“ teilt eins mit jenem Institut gleichen Namens in Frankfurt, das in den zwanziger Jahren von Felix Weil, auch ein reicher Erbe, begründet wurde: Es ist zu einer zwar kritischen, aber doch akademischen Angelegenheit geworden. Wenngleich ein neuer Horkheimer oder Adorno (noch) nicht in Sicht ist. Christian Semler

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