: „Keine andere Wahl“
■ Interview mit Arbeitsrechtler Jürgen Maly
Dreieinhalb Seiten umfaßt der Vertrag, der das Leben vieler Vulkanesen verändern wird. Wir baten Jürgen Maly, Fachanwalt für Arbeitsrecht, die Vertragsklauseln für uns zu entschlüsseln.
taz: Herr Maly, würden Sie Ihrem Mandanten raten, den Vertrag zu unterschreiben?
Jürgen Maly: Mein Mandant hätte heute keine andere Wahl.
Und was hat er davon?
Erstens: Er kann – wie viele seiner Kollegen – weiterarbeiten. Zweitens: Seine Ansprüche auf Abfindung aus dem Sozialplan im Konkursverfahren bleiben erhalten. Drittens: Die Leute sind nicht sofort oder nach der Kündigung arbeitslos. Der Zeitraum für die Bezüge vom Arbeitsamt, wie Arbeitslosengeld oder Kurzarbeitergeld, verlängert sich.
Die Vulkanesen verlieren ihre Abfindung nicht?
Sie verlieren nicht die Abfindung, die ihnen nach dem Gesetz über den Sozialplan im Konkurs zusteht. Ein Schlosser, der 4.000 Mark brutto verdient und 30 Jahre beim Vulkan war, bekäme normalerweise eine Abfindung von mindestens 60.000 Mark. Nach dem speziellen Konkurs-Sozialplan des Vulkan könnte ich mir vorstellen, daß er zwischen einem und fünf Gehältern als Abfindung bekommt (bis zu 20.000 Mark).
Ein Vertrag ohne Pferdefüße?
Nein, keineswegs. Es ist überhaupt nicht festgelegt, wie genau die Qualifizierungsmaßnahmen aussehen sollen. Außerdem stehen die Arbeitnehmer auf der Straße, wenn Teile des Unternehmens verkauft werden. Normalerweise müßten sie übernommen werden (Betriebsübergang).
Was hätte man in dieser Situation besser machen können?
Der Vertrag hätte eine vorläufige Übersicht über die Qualifizierungen enthalten müssen. Es muß außerdem eine Betriebsvereinbarung zwischen beiden Betriebsräten – also dem der neuen Beschäfti-gungsgesellschaft und dem alten Vulkan-Betriebsrat – geschlossen werden, welche Arbeitnehmer nach welchen Gesichtspunkten zur Arbeit herangezogen werden. Es kann nicht sein, daß bloß die höher gestellten Arbeitnehmer weiter beschäftigt werden und die Mitarbeiter mit den niedrigeren Lohngruppen außen vor bleiben.
Von Betriebsräten, die dies regeln könnten, ist nicht die Rede.
Das könnte ein Nachteil sein, der sich aus dem Vertrag allerdings nicht ablesen läßt – ich kenne ja nicht alle Unterlagen. Es scheint aber nicht geregelt zu sein, wie die betriebsverfassungsrechtliche Vertretung aussieht. Da alle Arbeitsverhältnisse – also auch die der Betriebsratsmitglieder – auf die neue Gesellschaft übertragen worden sind, gibt es bei den alten Vulkan-Firmen kein Betriebsrat mehr. Der Betriebsrat hat bestimmt ein nachwirkendes Mandat. Die Frage ist allerdings, inwieweit er damit alle kollektiven Rechte wahrnehmen kann, um zum Beispiel Arbeitsbedingungen mitzugestalten.
Welche Vorteile hat eigentlich die neue Beschäftigungsgesellschaft?
Normalerweise hätte das Unternehmen den Kollegen, die nicht mehr gebraucht werden, den Lohn in der Kündigungsfrist bezahlen müssen. Eine Schlosserin, die 30 Jahre beim Vulkan war, hätte eine Kündigungsfrist von sieben Monaten. Das heißt, die Werft hätte heute frühestens zum 31. Januar 1997 kündigen können. Das Geld wird jetzt gespart. Das kommt vor allem den Gläubigern zugute. Außerdem kann das Unternehmen produzieren – ohne das Risiko zu tragen, daß Kosten für kranke Arbeitnehmer anfallen. Es gibt auch kein Lohnrisiko für die Arbeitnehmer, die aktuell nicht gebraucht werden.
War es unter den gegebenen Umständen trotzdem der richtige Vertrag zur richtigen Stunde?
Nur wenn innerhalb der nächsten zwei, drei Monate ein Strukturkonzept für die maritime Industrie vorgelegt wird. Sonst ist der Vertrag das Papier nicht wert, auf dem er geschrieben ist. Ansonsten besteht für die Arbeitnehmer, die derzeit nicht benötigt werden, die Gefahr, daß das Ganze nur eine Aufbewahrungsanstalt ist.
Fragen: Kerstin Schneider
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