: Mit Surrogaten leben
Das Kirchsteigfeld bei Potsdam baut eine hübsche Siedlung, aber noch lange keine Stadt. Teil VIII der Serie „Orte im Wandel“ ■ Von Hans Wolfgang Hoffmann
Potsdam Ende 1991. Die einst glanzvolle Residenzstadt verfällt. 11.000 Wohnungssuchende wollen endlich Taten sehen. Baustadtrat Detlef Kaminski braucht einen unübersehbaren Erfolg. Der Berliner Großinvestor Groth + Graalfs ist bereit, mehr als eine Milliarde in den Wohnungsbau zu stecken. Doch auf 80 Prozent der Innenstadt lasten Restitutionsansprüche, für den Rest verbietet der Denkmalschutz schnelle Lösungen. An der Stadtgrenze findet sich eine freie Fläche. Mit 58 Hektar, größer als das Baugebiet Potsdamer Platz, ist sie groß genug für das größte Wohnbauprojekt der neuen Länder. Ihr Name: Kirchsteigfeld.
Der Investor weiß, was er will: „Keine Siedlung, keine Schlafstadt, kein Massenquartier.“ Auf dem Programm stehen nicht nur Wohnungen für 7.500 Menschen, sondern auch ein Bürozentrum für 5.000 Arbeitsplätze, dazu zwei Schulen, sieben Kitas, ein Jugendfreizeitheim, ein kirchliches Zentrum plus 42.000 Quadratmeter zum Einkaufen. Bei einem Architekten-Workshop sucht Klaus Groth ein suggestives Bild, das die Bürger beeindruckt und den politischen Durchsetzungsprozeß beflügelt, ein Ambiente, das dem Kunden gefällt und den wirtschaftlichen Erfolg garantiert. Das liefert der in Wien lebende Architekt Rob Krier. Seine Skizzen zeigen das Großprojekt als kleinteiliges „Dorf“. Kirche, Anger und Ententeich inklusive. Krier will eine „Stadt im menschlichen Maßstab“, die beim Bewohner „das Bewußtsein des Zuhauseseins“ schafft. Vier Jahre später sind die ersten 3.500 Kirchsteigfelder bereits eingezogen. Sie kommen in eine wunderbar fertige Welt. Die Gartengestaltung des Berliner Büros Müller, Knippschild, Wehberg erschließt eine labyrinthische Spiellandschaft. In den Höfen wächst, künstlich zwar, die Natur.
Das Raumkonzept ist aufgegangen: In den verwinkelten Höfen, dem engmaschigen Netz von Straßen und Plätzen oder am Dorfanger, überall kann man sich dem Gefühl von Geborgenheit nicht entziehen. Von ebenso homogener Vielgestaltigkeit sind die Häuser. Durch Rob Kriers künstlerische Oberaufsicht waren Gebäudekubatur und Fassadenmaterial festlegt, innerhalb dieser Regeln gab ein gutes Dutzend „verwandter“ Architekten jedem Haus ein eigenes Gesicht. Man mag über postmoderne Form- und Farborgien lächeln, die Botschaft ist eindeutig: Hier ist Ihr Zuhause!
Doch die Anlage wirkt unbelebt. Weit schwieriger als die Gestalt einer Stadt ließ sich ihre Nutzungsmischung herstellen. Die Schulen sind noch nicht fertig. Die Kirche ist mangels Nachfrage gestrichen. Aus dem gleichen Grund wird es weder Schuster noch Weinboutique geben. Sie rechnen sich nicht bei nur 7.000 potentiellen Kunden. Man wird froh sein können, wenn sich wenigstens die 17 Läden und der Imbiß halten, die im sogenannten Ortszentrum neben Kaiser's entstehen werden. Der Filialist hat sich vertraglich jede Konkurrenz verbeten. Der „Markt“ wird eine Alibiveranstaltung bleiben.
Jetzt rächt sich, daß das Projekt keines der Potentiale der Nachbarschaft nutzt, sondern von Anfang an autark gedacht war. Gegenüber der Plattensiedlung „Am Stern“ im Norden hält man ebenso Abstand wie vom Wald im Süden. Am deutlichsten ist die „Beziehung“ zum gewachsenen Dorf Drewitz im Westen. Der „Hirtengraben“, Hauptboulevard der Siedlung, endet einfach im Rücken der Scheunen. Den einzigen Nutzen zieht der Bauherr, dessen Infocontainer ein leeres Grundstück an der Dorfstraße besetzen. Eine „dörfliche“ Einheit von Wohnen und Arbeiten, wie sie auf den Höfen von Drewitz praktiziert wird, strebte das Kirchsteigfeld nie an. Zeitgemäß plante man keine Mischung, sondern ein Nebeneinander. Doch bislang verkündet nur ein einsames Bauschild, daß im Westen ein Büropark vorgesehen ist. Investorenlyrik („zukunftssichere Lage“) allein reicht in wirtschaftlich lauen Zeiten nicht aus, um Unternehmen anzulocken. Jeder Investor fragt sich, warum er sich gerade in dieser Randlage ansiedeln soll. Anders als etwa in Berlin-Buch, dem Berlin von hundert Jahren seine Rolle als Krankenhausstadt verlieh, gibt es hier keine Initialnutzung. Heute sind die Großstädte nicht mehr bereit, wirtschaftlich relevante Aufgaben abzugeben. Das Gezänk um den Standort für den Großflughafen ist dafür das beste Beispiel. So erschöpft sich die Bedeutung des Kirchsteigfeldes letzlich darin, daß hier eine gewisse Anzahl Menschen schläft. Ein Schicksal, das es mit zahllosen Umlandgemeinden teilt.
Doch das alles hält die Realisierungsmaschinerie nicht auf. Für die Erkenntnis, daß Städte nicht errichtet werden, sondern sich entwickeln, ist im Denken der Projektmanager und Architekten kein Platz. Diese Stadt ist von Anfang an völlig fertig. Der Service des Investors reicht vom Aufstellen des Bebauungsplans bis zum Ersetzen nicht angewachsener Rhododendronsträucher. Er verlangt von den Bewohnern nichts, gibt ihnen aber auch keine Möglichkeit, sich für die „Dorfgemeinschaft“ zu engagieren. Er sieht sie nur als Konsumenten. Mehr als ein Wettbewerb zur Balkonbegrünung ist da nicht drin. Natürlich gibt es eine Lösung gegen diese Unzulänglichkeiten. Sie befindet sich im Erdgeschoß eines jeden Hauses. Dort lagern auf der wertvollsten Fläche des Hauses: Autos. Hofseitig stehen die Häuser nicht auf dem Boden, sondern auf aufwendigen „Halbgaragen“. Zwar wird der „brutale Anblick der Autos“ (Krier) bald hinter Efeu verschwinden, doch die Bewohner fahren bequem über die Autobahn. Kein noch so schöner Dorfplatz kann ihr Leben zentrieren. Sie wollen genau wie die Städter alles zugleich: das Erlebnis Natur, Stadt, Einkaufen und so weiter. Das Auto überbrückt die Distanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Die Stadtgemeinschaft verflüssigt sich zu Verkehrsströmen. Weil sie weder bereit noch in der Lage sind, unser Dasein an einen Ort zu binden, müssen sie mit Surrogaten leben.
So ist die Geschichte nicht ohne Happy-End. Als Stadt gescheitert, funktioniert das Unternehmen als Siedlung: Die Bewohner sind zufrieden, für den Investor hat es sich ökonomisch gelohnt, und die Stadt hat einige tausend Wohnungssuchende weniger. Einzig der Architekt muß erkennen, daß sein Weltbild heutzutage nur noch zur Kulisse taugt.
Teil IX erscheint am 1. Juni: Auferstanden aus Ruinen
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