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Kaum materialistisch

Von 1899 bis 1904 unterrichtete Rudolf Steiner an der Arbeiterbildungsschule. Eine Ausstellung erinnert nun an seine Berliner Zeit  ■ Von Volker Wartmann

Rudolf Steiner hat in Berlin lange Zeit gewirkt. Seine Spuren in der Stadt sind kaum zu übersehen. „In Berlin gibt es sechs, in Brandenburg vier Waldorfschulen. Vor zehn Jahren waren es erst zwei in West-Berlin“, sagt Martin Kollewijn von der anthroposophischen Gesellschaft in Berlin. „Die erste Schule in den neuen Bundesländern wurde noch zu DDR-Zeiten in Mitte gegründet.“

„Leben und Werk von Rudolf Steiner und seine Berliner Jahre“ wurden bereits zu Beginn des Jahres in einer Ausstellung in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung gezeigt. Sie ist am 19. Mai von 10 bis 18 Uhr noch einmal im Rathaus Schöneberg zu sehen.

Steiner als Goetheforscher, Philosoph, Anthroposoph, Künstler und Vortragender. Aber auch inhaltliche Aspekte von seiner Arbeit werden in Briefen und Fotos gezeigt. „Steiner hat in vielen Bereichen wichtige Impulse gegeben. So zum Beispiel in der Erkenntnis des Menschenwesens und des Kosmos, in der Philosphie, in den Naturwissenschaften und der Kunst. Bemerkenswert waren seine Einflüsse im sozialen Leben, etwa in den Fachgebieten Medizin, Architektur und Landwirtschaft“, sagt Marianne Knobloch, Vorstandsmitglied der Elterninitiative für Waldorfpädagogik in Schöneberg.

Ein Schwerpunkt der Ausstellung sind seine Berliner Jahre von 1897 bis 1905: seine Redaktionstätigkeit beim Magazin für Literatur, sein Wirken im Literatenkreis „Die Kommenden“ und seine Lehrtätigkeit an der Arbeiterbildungsschule. Dort arbeitete Steiner von 1899 bis 1904 als Lehrer. Die Arbeiterbildungsschule war 1891 von dem Sozialdemokraten Wilhelm Liebknecht gegründet worden. Auf der Gründungsversammlung am 12. Januar sagte Liebknecht: „Die Arbeiterbildungsschule soll die Wirkungen und Früchte der herrschenden Dressier- und Fanatisiererziehungsmethode mit Stumpf und Stiel beseitigen. Denn mit dressierten und fanatisierten Menschen ist nichts zu erreichen – außer höchstens trügerische Augenblickserfolge... Die Arbeiterschule soll Menschen erziehen und Kämpfer.“

Im April 1891 begann der Unterricht an insgesamt sechs verschiedenen Orten, verteilt über die ganze Stadt. Unterrichtsfächer waren: Nationalökonomie, Geschichte, Rechtschreibung, Deutsch, Naturwissenschaften, Rechnen, Buchführung, Stenographie und Zeichnen. Pro Vierteljahr waren zehn Stunden je Fach angesetzt. Das Unterrichtsjahr gliederte sich in vier Quartale, das dritte war frei. Die Kursstunden dauerten von 21 bis 22.30 Uhr. Angesichts der Arbeitszeiten und der oft langwierigen und umständlichen Anfahrtswege der ArbeiterInnen eine außerordentliche Beanspruchung.

Wer nun den entscheidenden Hinweis auf Rudolf Steiner als einen möglichen neuen Lehrer für Geschichte gegeben hat, läßt sich heute nicht mehr sicher feststellen. Obwohl er sich mit der materialistischen Weltanschauung der Schulleitung nicht identifizieren konnte, wurde er als Lehrer eingestellt. Steiner schreibt in seiner Biographie: „Ich sah die schöne Aufgabe vor mir, gereifte Männer und Frauen aus dem Arbeiterstande zu belehren. Ich erklärte dem Vorstande, wenn ich den Unterricht übernähme, so würde ich ganz nach meiner Meinung von dem Entwicklungsgange der Menschheit Geschichte vortragen, nicht in dem Stil, wie das nach dem Marxismus jetzt in sozialdemokratischen Kreisen üblich sei. Man blieb dabei, meinen Unterricht zu wünschen.“

Das Kursangebot der Arbeiterbildungsschule beschränkte sich in der Zeit zwischen 1899 und 1904 in der Regel auf drei oder vier Fächer: Nationalökonomie, Geschichte, Rede-Übung und Naturerkenntnis. Steiner unterrichtete bis zu fünf Abende die Woche. In seinem ersten Kurs „Geschichte im 16. Jahrhundert bis auf die Jetztzeit, mit besonderer Berücksichtigung des geistigen Lebens“ 1899 hatten sich 44 ZuhörerInnen eingeschrieben. Das Urteil eines teilnehmenden „besonders tätigen Genossens“ zu Steiners erstem Vortrag lautete: „Na, materialistische Geschichtsauffassung war das ja nicht, aber interessant war es.“ Die Zahl der ZuhörerInnen des „parteilosen“ Lehrers nahm beständig zu. Bis 1901 hatte sich ihre Zahl auf 159 ZuhörerInnen gesteigert. Steiner war bei den ArbeiterInnen sehr beliebt. Ein Teilnehmer schrieb über die Kursstunden bei Steiner: „Alle hingen mit großer Liebe an ihm und ich wäre, wie wohl die meisten, für ihn durch's Feuer gegangen. Was er eigentlich gelehrt hat, ich kann es heute nicht mehr sagen, aber er war von einer Liebe und Güte, wie ich es bei keinem Menschen wieder angetroffen habe.“

Nach dem Tod Wilhelm Liebknechts im August 1900 nahmen die Richtungsstreitigkeiten an der Arbeiterbildungsschule um die „richtige sozialistische Einstellung“ des Lehrkörpers zu. Die Ressentiments seitens der Parteifunktionäre innerhalb der Arbeiterbildungsschule gegenüber dem „Nichtgenossen“ Steiner wuchsen. Zu einer deutlichen Zuspitzung des Konflikts zwischen Steiner und dem politischen Schulvorstand kam es im Jahr 1904. Ende des Jahres sah Steiner eine Fortführung seiner Lehrertätigkeit unter den gegebenen Umständen als unmöglich an. Er beendete seine Arbeit an der Arbeiterbildungsschule und widmete sich verstärkt anderen Aufgabenfeldern.

Die Spuren von Steiners Wirken sind in Berlin in den letzten Jahren deutlicher geworden. Im Bereich der Waldorfschulen sind sie im Vergleich zu anderen bundesdeutschen Großstädten jedoch verhältnismäßig bescheiden. „Während in Bonn, München oder Hamburg rund ein Prozent aller SchülerInnen Waldorfschulen besuchen, sind es in Berlin nicht einmal ein halbes Prozent. In der Hochburg Stuttgart besuchen gar mehr als vier Prozent aller SchülerInnen eine Waldorfschule“, so Marianne Knobloch. In Stuttgart hatte Steiner 1919 die erste Waldorfschule in Deutschland gegründet. Beispiele für weitere Spuren von Steiner in Berlin sind das anthroposophische Krankenhaus Havelhöhe, das Forum Kreuzberg und das Hiram-Haus.

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