: Brennende Augen und Dauerkratzen im Hals
In diesem Jahrhundert fielen die Wasseradern der Stadt dem Asphaltwahn zum Opfer. Aus dem „Venedig Lateinamerikas“ wurde eine Hauptstadt des Smogs. Ökologische Kamine könnten die Gifte vertreiben ■ Aus Mexiko-Stadt Anne Huffschmid
„Haben Sie heute schon unseren Popo gesehen?“ fragen die taxistas zärtlich, die auf den leeren Straßen nach Kundschaft Ausschau halten. Trotz des flauen Geschäfts sind sie gut gelaunt. „Wie schön er wieder aussieht!“ Unser Popo, das ist der majestätische Popocatepetl, der am Rande der mexikanischen Hauptstadt thront und, so will es die Legende, über die Geschicke der geplagten Metropole wacht. Seine ewige Schneekrone ragt als höchste aus dem vulkanischen Ring rund um den dichtbevölkerten Talkessel, dem Valle de México. Deren BewohnerInnen, die capitalinos, waren für ein paar Tage wie verzaubert: Wohin das Auge auch blickte, am Ende jeder endlos langen Straßenflucht, in den Ritzen zwischem dem wildwuchernden Häusermeer – freie Sicht auf die Berge. Knalliges Blau liegt über der Stadt, ganz ohne Grauschleier. Ausnahmezustand in Mexiko-Stadt: die Winterferien.
Der Silvesterspuk war schnell vorbei. Schon in den ersten Januartagen eroberten Millionen heimgekehrter Urlauber, samt fahrbarem Untersatz, die Straßen zurück. Und mit ihnen kehrt der hauptstädtische Alltag wieder ein, in dem sich die capitalinos längst eingerichtet haben und der Besucher immer wieder aus der Fassung bringt – das Leben unter der Glocke. Brennende Augen und Dauerkratzen im Hals gehören hier zum urbanen Lebensgefühl, mal mehr, mal weniger, im trockenen Winter meist ersteres: wenn nämlich die verseuchte Luft am kältesten und damit am schwersten ist, partout nicht abziehen will und auch von eher seltenen Winden nicht vertrieben wird. Dann bringen Mütter ihre Kleinen meist mit Mundschutz zur Schule, die paar wagemutigen Radler holen die Gasmaske aus dem Schrank, und die Nachrichtensprecher bekommen wieder diesen besorgten Gesichtsausdruck. Alle Jahre wieder verkünden PolitikerInnen ein paar gute Vorsätze, und Oppositionelle klagen über die „chronische Ineffizienz“ der Stadtverwaltung.
Schon vor genau vier Jahren versetzte der erste dramatische Katastrophenalarm die BewohnerInnen in helle Aufregung. Auf fast 400 Punkte kletterten damals die Werte auf der Imeca-Skala (Indice Metropolitano de Calidad de Aire), die Tag für Tag die Zusammensetzung des luftigen Giftcocktails bemißt – gemixt aus Schwefeldioxid, Stickoxiden, Kohlenmonoxid, Staubpartikeln, Blei und Ozon. Deren internationaler Grenzwert liegt bei 100 Punkten. „Die Imecas greifen an!“ kreischten damals die Schlagzeilen. Und die capitalinos mußten sich notgedrungen, neben dem Erdbebenmaß der Richter-Skala, mit einer weiteren Skala des Grauens vertraut machen. Geändert hat sich seither nicht viel.
Gewaltsam von der Wasser- zur Bodenkultur
Verwunderlich findet der Architekt Jorge Legorreta, selbst erklärter „Liebhaber“ und Kenner der mexikanischen Metropolis, die katastrophale Lage keinesfalls. Schließlich sei keine andere Stadtökologie der Welt so radikal verändert worden wie die der Erbin des alten Tenochtitlan, der Hauptstadt des Aztekenreiches. In gerade 475 Jahren habe man die städtische „Wasserkultur“ gewaltsam in eine „Bodenkultur“ verwandelt. Schon knapp hundert Jahre nach Ankunft der spanischen Invasoren, die sich noch am Anblick eines „mexikanischen Venedig“ ergötzen konnten, begann man, das grandiose Seebecken trockenzulegen. Der Grund dafür war eher trivial. Um ihr Imperium militärisch zu sichern, brauchten die Spanier schlicht festen Boden unter den Füßen. Aus einstmals 1.100 Quadratkilometern Wasser sind heute 1.400 Quadratkilometer Asphalt geworden – und die Hauptstadt zu einer der wasserärmsten Städte der Welt. Dennoch galt sie bis in die 50er Jahre als Metropole mit der saubersten Luft der Welt.
Auf die Spur kam man der schleichenden Vergiftung erst Ende der 70er Jahre. Wie durch Zauberhand verloren die Statuen im Straßenmeer buchstäblich nach und nach das Gesicht. Als es wenige Jahre später zu den ersten thermischen Inversionen im Talkessel kam, war die Luftverpestung mit einem Mal in aller Munde. „Die körperliche Gesundheit hängt ja eng mit der geistigen zusammen“, warnte schon damals ein Spezialist des Gesundheitsministeriums, „am Ende werden wir Millionen Durchgeknallter sein, die um ein Auto herumspringen.“ Nach Einschätzung der Experten führt besonders der hohe Bleigehalt der Luft auf lange Sicht zur Verblödung oder, vornehmer: zu mentaler Regression. Bei jedem vierten Kind, das im Nordosten der Stadt wohnt, hat man 25 Milligramm Blei auf 10 Liter Blut gefunden, Lernprobleme und Konzentrationsschwierigkeiten sind noch die harmloseren Folgen. Bei den über Dreißigjährigen ist die Lebenserwartung um durchschnittlich sechs Jahre verkürzt. Alles andere als erhebend sind auch die ökologischen Aussichten aufs nächste Jahrtausend: Rund 30 Millionen HauptstädterInnen werden rund 70.000 Liter Wasser pro Sekunde verbrauchen – verfügbar sein werden allerdings nur 40.000 Liter. Von den 30.000 Tonnen Müll, die die Stadt pro Tag produziert, wird man im Höchstfall 25.000 einsammeln können. Und die Imeca-Werte werden sich, wenn alles so weitergeht, um einen Tagesdurchschnitt von 250 Punkten einpendeln. „Dann ersticken wir eben alle miteinander“, konstatierte schon vor Jahren ein renommiertes Stadtmagazin.
Das Gros der Gifte kommt zweifellos aus den Auspuffen. Rein quantitativ liegen die rund drei Millionen AutofahrerInnen weit vor den Fabrikschornsteinen: Sie pusten an die 80 Prozent aller Emissionen in die Luft, auch wenn der toxische Gehalt vieler Industriegifte fünf- bis zehnmal so hoch ist wie die Autoabgase. Mehr als ein Fünftel aller Industrieanlagen des Landes – darunter lukrative Auslandsunternehmen – sind um und in der Hauptstadt konzentriert und produzieren rund 35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Da hält man sich, zumindest rhetorisch, lieber an die vergleichsweise Kleineren. Neben zaghaften Vorstößen wie der Einführung von Gas und bleifreiem Benzin sowie dem halbjährlichen Zwangscheck der Motoren hatte sich die Stadtverwaltung schon Ende 1989 bei ihrem ersten Großversuch zur Eindämmung des privaten Autoverkehrs einigermaßen unbeliebt gemacht. „Hoy no circula“ („Heute wird nicht gefahren“) heißt das Programm, das bis heute die Autobesitzer regelmäßig in Rage bringt. Je nach Endziffer des Nummernschildes müssen sie ihren Wagen mindestens einen Werktag in der Woche zu Hause lassen, bei offiziellem Smogalarm auch mal zwei oder drei Tage. Nach kurzer Zeit schon wurde die unpopuläre Maßnahme zum Bumerang: Ab 1991 überstieg die Zahl der neuzugelassenen und zirkulierenden Autos die zwangsgeparkten Fahrzeuge. Wer es sich leisten konnte, schaffte sich einfach einen Zweitwagen an – mit einem anderen Nummernschild. Der Bürgerzorn über „Hoy no circula“ führt dabei zu ungewöhnlichen Politallianzen: von gestandenen Linkspolitikern wie Heberto Castillo, der die „verfassungsmäßige Einschränkung der Fahrfreiheit“ beklagt, bis zur Privatwirtschaft, die lautstark die „mangelnde Sensibilität der Behörden“ kritisiert. Auch nach Meinung von Legorreta ist die Maßnahme lediglich dazu angetan, die anstehende Modernisierung der – meist ausländischen – Autohersteller in Mexiko hinauszuzögern. „Wenn ich bei mir zu Hause, mit meinen zwanzig Verwandten, ein Problem habe“, so Legorreta, „dann kann ich das doch nicht damit lösen, daß ich einfach einen Tag in der Woche vier von ihnen in den Keller sperre, damit sie nicht mit am Tisch sitzen.“ Damit alle weiterhin friedlich zusammenleben können, müsse man statt dessen endlich die Technologien aufrüsten, also den Zwang zu Katalysator – der bislang nur für Neuwagen vorgeschrieben ist – und bleifreiem Benzin für alle. Die oft beschworene Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs hält der Architekt dagegen für einen „Mythos“: „Moderne Leute in der Metropole werden immer Auto fahren wollen – ob uns das paßt oder nicht.“ Noch scheint der freiwillige Autoverzicht in Mexiko-Stadt tatsächlich utopisch. Zwar rasen tagtäglich Zehntausende von konzessionierten Kleinbussen, die sogenannten Micros, auf mehr oder weniger festgelegten Routen kreuz und quer durch die Stadt. Benutzt aber werden sie nur von denen, die mangels Auto keine Wahl haben.
Da man praktisch von jedem beliebigen Punkt der Straße zusteigen kann, bringen die waghalsigen Brems- und Anfahrmanöver empfindsame Gemüter leicht aus der Fassung. Größer gewachsene Menschen holen sich in den – grundsätzlich überbelegten – Micros älteren Modells vor lauter Kopfeinziehen eine Genickstarre, und auch das Aussteigen bedarf, zumindest zur Rush-hour, eines gewissen Durchsetzungsvermögens. Hypermodern erscheint dagegen die Metro, die vor einem Vierteljahrhundert nach Pariser Vorbild gebaut wurde und seitdem der ganze Stolz der Stadtverwaltung ist. Im Minutentakt sausen die Züge vorbei und transportieren am Tag rund fünf Millionen Fahrgäste von einem Ort zum anderen.
Hypermodern und nach Pariser Vorbild: die Metro
Menschen mit Berührungsängsten, Atemnot und schwachen Nerven ist von einer Metroreise dringend abzuraten. In den überquellenden Waggons sind die Fenster grundsätzlich fest verschlossen, alle nur erdenklichen Körperteile kommen im Gedränge miteinander in Berührung, und nicht selten hat man sich erst drei Stationen nach dem gewünschten Zielbahnhof zum Ausgang vorgekämpft. Gefordert wird von unabhängigen Stadtplanern deshalb seit Jahr und Tag das Umsteigen auf umwelt- und fahrgastfreundlichere Straßenbahnen.
Aufsehenerregender war da schon der Vorschlag Heberto Castillos zur Bekämpfung der Imeca- Plage. Der findige Ingenieur wollte hundert riesige Windmaschinen, sogenannte „ökologische Kamine“ oder „künstliche Hurrikane“, über das Stadtgebiet verteilen, die den Smog aus dem Tal treiben sollten. Es war alles genauestens berechnet: Die verseuchte Luft würde unten mittels Gasverbrennung – oder, besser noch: Sonnenenergie – um 5 Grad erwärmt und dann mit einer Geschwindigkeit von 4,5 Metern pro Sekunde nach oben steigen. Bei einem Kamindurchmesser von 35 Metern könnten in Sekundenschnelle 4.500 Quadratmeter nach oben befördert werden. Werden nur hundert solcher Kamine 60 Stunden lang eingesetzt, können sie 100 Kubikkilometer Luft in 50 Meter Höhe pusten – was in etwa dem Volumen der Smogkappe über der Stadt entspricht. „Dieses Gift verteilt sich dann auf ein paar tausend Kubikkilometer“, erläutert der fidele Siebzigjährige sein Vorhaben geduldig, „das ist wie ein Löffel Zucker auf 30 Tassen Kaffee, den schmeckt man ja auch nicht mehr.“ Klar ist auch ihm, daß seine Öko- Kamine nur die Symptome und nicht die Ursachen der Plage bekämpfen können. Aber die Zeit drängt. „Mexiko-Stadt liegt im Sterben“, warnte Castillo schon vor vier Jahren. Die Sauerstoffmaske hätte Zeit für längerfristige Lösungen verschafft. Der Stadtverwaltung aber erschien das Projekt damals „nicht realisierbar“ – seitdem liegt sie auf Eis.
Bis die Russen nach Mexiko kamen. Im Februar dieses Jahres präsentierte eine russische Technofirma ein Makroventilatoren-Projekt – ursprünglich als „Methode zum Schutz vor Zyklonen“ patentiert –, das den Castilloschen Grundgedanken wieder aufgreift. Mit nur sechs Windstationen und einem gigantischen Kabelnetz versprechen die russischen Ingenieure den Mexikanern eine „garantierte Verbesserung der Luftqualität: Die Imeca-Werte sollen in einem halben Jahr unter die 100-Punkte- Marke gedrückt werden. Schlappe zehn bis fünfzehn Millionen Dollar würde der Ventilatorenbetrieb die Stadt im Jahr kosten, zahlbar zudem erst bei „befriedigenden Ergebnissen“. Eine offizielle Antwort steht derzeit noch aus.
Die beste Lösung: Ein Tempel für den Windgott
Statt dessen verkündeten die Umweltbehörden Mitte März wieder einmal wortgewaltig eine neue „Metropolitane Allianz zur Wiederherstellung einer sauberen Luft 1995–2000“. Nicht weniger als 95 Aktionen sind darin aufgelistet, von Steueranreizen für Filter und Katalysatoren bis hin zur Förderung des Fahrradfahrens. Etwas kleinlauter mußte die Umweltministerin Julia Carabias bei dieser Gelegenheit zugeben, daß das umstrittene „Hoy no circula“ – einst als Zauberformel einer effektiven Smogbekämpfung gefeiert – nicht effizient gewesen sei, und versprach dessen baldige Aufhebung.
Die capitalinos aber bleiben skeptisch. Um die Imecas zu bekämpfen, schlug kürzlich eine Frau per Leserbrief vor, solle man „statt unzähliger sinnloser Programme einfach einen wunderschönen Tempel für den Windgott Ehecatl bauen“. Dieser würde „sich dann der Leiden der HauptstädterInnen erbarmen“ und jeden Tag ein paar „gütige Winde“ schicken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen