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Als Amerika seine Schwarzen verstieß

„Boat people“ aus den USA, Missionare ohne Landkarten und ein Tausch von Land gegen Regenschirme: Kaum ein Staat der Welt verdankt seine Entstehung einer solchen Kette von Zufällen und Beinahe-Katastrophen wie Liberia  ■ Von Dominic Johnson

Die verzweifelte Flucht liberianischer Boat people vor den unwirtlichen Felsenstränden Westafrikas erinnert tragisch an die Art, wie Liberia einst entstand: Als Kreation US-amerikanischer Schwarzer, die als frühneuzeitliche „Boat people“ nach langer Ozeanfahrt im damals noch erhaltenen Regenwald an der westafrikanischen Küste landeten.

Westafrikas tropische Küstenregion zu Beginn des 19. Jahrhunderts war ein abgeschiedener Ort. Der jahrhundertelange Sklavenhandel, bei dem europäische Abenteurer Millionen von Menschen zur Plantagenarbeit nach Amerika exportierten, hatte die Bevölkerung dezimiert. Die einheimischen Gesellschaften ließen die verrufene Küste links liegen und orientierten sich lieber in Richtung der großen Savannenreiche. Die Betreiber der wenigen europäischen Handelsniederlassungen überlebten meist nur wenige Jahre – Opfer des Klimas, der Seuchen und des Alkohols, oder auch der Rivalitäten und Kriege mit Lieferanten und Konkurrenten. Nicht von ungefähr galten die Regionen, die nach ihren Hauptexportgütern „Pfefferküste“, „Elfenbeinküste“, „Goldküste“ und „Sklavenküste“ genannt wurden, als „Grab des weißen Mannes.“

In dieser Situation näherte sich zu Beginn des Jahres 1820 das US- amerikanische Schiff „Elizabeth“ dem Hafen Freetown, Hauptstadt des britischen Protektorats Sierra Leone. An Bord befanden sich 88 Schwarze aus den Vereinigten Staaten. Sie sollten in Afrika ein Projekt der vier Jahre zuvor gegründeten „American Colonization Society“ erfüllen. Unter Führung von Bushrod Washington, dem Neffen des berühmten US- Unabhängigkeitshelden, hatte sich dieser Verein zum Ziel gesetzt, freigelassene schwarze Sklaven aus den USA in Afrika seßhaft zu machen.

Vorbild für die 88 Siedler war die Arbeit des britischen „Komitees für arme Schwarze“. Am 10. Januar 1787 hatte dieses unter Leitung des Philanthropen Granville Sharpe 259 schwarze „Freiwillige“ und 70 Prostituierte aus London an der westafrikanischen Küste in der Nähe des britischen Handelskontors Bance Point abgeladen. Mit Reissaat, Gewehren und einer eigenen Verfassung hatten diese ersten Kolonialsiedler des tropischen Afrikas sich nach etlichen Anfangsschwierigkeiten etabliert. Zwar waren sie zunächst entsetzt aus ihrer Strandsiedlung geflohen, als sie feststellten, daß dort schon andere Afrikaner lebten. Doch 1792 hatten sie bibelschwingend und choralsingend den Rückmarsch von Bance Point aufs Festland angetreten und eine „Freistadt“ gegründet – Freetown, Hauptstadt des heutigen Sierra Leone. Die „Freistadt“ samt Umland wurde 1807 zur britischen Kronkolonie.

Der Kolonialregierung paßte die Ankunft von US-Schwarzen überhaupt nicht, denn sie galten als mögliche Unruhestifter. So schickte Gouverneur MacCarthy die „Elizabeth“ wieder fort – ein folgenschwerer Schritt: Hätte der Gouverneur die Afro-Amerikaner aufgenommen, wäre die US-amerikanische Besiedlung Afrikas im britischen Empire aufgegangen und Liberia wäre nie entstanden. So aber segelten die US-Siedler gezwungenermaßen weiter und landeten schließlich 150 Kilometer südöstlich auf einer Insel.

Der Ort war so schlecht gewählt, daß ein Viertel von ihnen sofort an Krankheiten starb und der Rest nach Sierra Leone zurückfuhr. Das war aber keineswegs das Ende des Unternehmens. Aus den USA war bereits ein neues Schiff unterwegs: Die „Nautilius“, geführt diesmal von erfahrenen Briten. Die holten die Insassen der „Elizabeth“ aus Sierra Leone ab und erreichten schließlich einen Ort namens Kap Mesurado.

Hier erlitten sie ein ähnliches Schicksal wie die Insassen heutiger Flüchtlingsschiffe: Die einheimischen Stämme verwehrten ihnen die Landung. Daraufhin wollten die britischen Anführer wieder nach Hause fahren. Ein Teil der Schwarzen aber weigerte sich. Angeführt von einem Elijah Johnson blieben sie da, während die „Nautilius“ wegsegelte.

Johnson und seine Gefährten wären wohl still verschollen – aber die „American Colonisation Society“ ließ nicht locker und schickte ihr Schiff sofort wieder zurück nach Kap Mesurado. Dort begannen langwierige Verhandlungen mit den örtlichen Stammesführern, die darin gipfelten, daß die Gesellschaft am 15. Dezember 1821 einen Landstrich von 130 mal 30 Meilen (209 mal 48 Kilometer) kaufte. Der Preis: sechs Musketen, ein Pulverfaß, sechs Eisenstangen, zehn Töpfe, ein Fäßchen Perlen, zwei Fässer Tabak, je zwölf Messer, Gabeln und Löffel, ein kleines Faß Nägel, eine Schachtel Tabakpfeifen, drei Spiegel, vier Regenschirme, drei Spazierstöcke, eine Seifenkiste, ein Faß Rum, vier Hüte, drei Paar Schuhe, sechs Bahnen blauer und drei Stücke weißer Stoff, dazu die Verpflichtung zur späteren Lieferung von weiteren genau aufgelisteten Gegenständen inklusive Rindfleisch, Zwieback und Weingläser.

Dieser Vertrag war die eigentliche Geburtsurkunde von Liberia. „Es war sicher die merkwürdigste Gesellschaft, die je die Westküste Afrikas besucht hatte“, beschreibt der Historiker Horst Münnich die Gruppe um Elijah Johnson: „ein paar Weiße, die den Alkohol verabscheuten und vor allem keine Sklaven einhandeln wollten; Mulatten und Neger, die völlig europäisch gekleidet waren, das Gehabe von Europäern an sich hatten und fortwährend betonten, daß sie Christen seien“. Sie gaben der von ihnen bewohnten Insel den Namen „Bushrod Island“ zu Ehren des Schirmherrs ihres Kolonialvereins und bauten Häuser.

Die einheimischen Stammesführer, deren Land sie gekauft hatten, wähnten ein leichtes Spiel zu haben und griffen die Insel immer wieder an. Doch unter den schwarzen Siedlern befanden sich etliche waffentüchtige Veteranen des US- Unabhängigkeitskrieges. Sie drangen ihrerseits auf das Festland vor und errichteten ein Militärlager namens „Christopolis“ – deutlicher Ausdruck des missionarischen Geistes, der das ganze Unternehmen beseelte.

Daß der Standort von Christopolis eigentlich ein heiliger Versammlungsort der Einheimischen war, wußten die Kolonisatoren nicht. So wunderten sie sich, daß die Kämpfe noch heftiger weitergingen. Schon die Entstehung Liberias war also mit einem Makel behaftet: Krieg zwischen den afro- amerikanischen Einwanderern, die sich in jungfräulichem Land wähnten, und den Bewohnern, die niemand gefragt hatte.

Nach einigen Jahren war Christopolis gesichert, und die „American Colonization Society“ schickte immer mehr Schwarze. Sie nannten ihre Stadt bald zu Ehren des US-Präsidenten Monroe in „Monrovia“ um und erklärten sie zur Hauptstadt eines Gemeinwesens namens „Liberia“ – Land der Freien. 15.386 US-Schwarze transportierte die „Society“ insgesamt zwischen 1820 und 1899 nach Liberia; dazu kamen etwa 6.000 Afrikaner, die von der britischen Marine von illegalen Sklavenschiffen befreit worden waren. Im gesamten 19. Jahrhundert brachte die britische und französische Kriegsmarine Hunderte solcher Schiffe auf, konfiszierte die menschliche Ladung und verteilte sie in den neuen Kolonialsiedlungen. In Liberia wurden diese Neusiedler „Congoes“ genannt.

Freigelassene Sklaven in Afrika anzusiedeln war damals ein Projekt, das weiße Regierungen und Kirchen begeisterte. Die Briten schickten „ihre“ Freien nach Sierra Leone und Liberia, die Franzosen nach Senegal und Gabun, wo als Pendant zum sierraleonischen Freetown eine eigene „Freistadt“ entstand – die heutige Hauptstadt Libreville. Die Motive waren hauptsächlich missionarischer Natur. In Gabun und Sierra Leone entstanden kirchlich geleitete Modelldörfer, wo Ex-Sklaven den einheimischen Afrikanern europäische Lebens- und Arbeitsstile vorführen und beibringen sollten. „Diese unglücklichen Menschen in freie und französische Afrikaner zu verwandeln“, war das Motto des französischen Marinekommandanten und Gründers von Libreville, Bouet-Willaumez.

Bei der Schaffung Liberias spielte vor allem die Angst vor einer permanenten schwarzen Minderheit in Nordamerika eine Rolle. Das Beispiel Haiti, wo eine blutige Sklavenrevolte 1804 zur Gründung eines schwarzen Staates führte, bewog viele US-Politiker dazu, erstmals eine räumliche Trennung zwischen Schwarz und Weiß zu befürworten. Mehrere US-Südstaaten erklärten den ständigen Aufenthalt freier Schwarzer für illegal, verboten schwarze Kirchen und schlossen Schwarze aus ihren Milizen aus. Am Ende dieser Überlegungen stand dann zum einen die bis in dieses Jahrhundert geltende Segregation – und zum anderen die Idee, möglichst viele Afrikaner nach Afrika zu verbannen.

Daß die Afrika-Transporte relativ klein gerieten, änderte nichts daran, daß die früheren Sklaven in Afrika zum Herrenvolk mutierten. Auch nach 1847, als sich die verschiedenen liberianischen Kolonien gemeinsam unabhängig erklärten, nahmen die „Liberianer“ ihre einheimischen Nachbarn einfach nicht zur Kenntnis, außer beim Tauschhandel. „Der Liberianer“, schrieb der englische Kaufmann Harold Robert Taylor 1939 in seinen Liberia-Memoiren, „ist ein Parasit, der von den Anstrengungen des Einheimischen lebt. Die Nachkommen der emanzipierten Sklaven aus Amerika sind von Bauern und Handwerkern zu Anwälten, Predigern, Politikern und allgemein hochkarätigen Gaunern degeneriert.“

Erst 1980, als der letzte Siedlerpräsident von einheimischen Soldaten gestürzt wurde, endete die afro-amerikanische Fremdherrschaft – und begann die Ära der Warlords. Der Putsch des Leutnants Samuel Doe vom Volk der Krahn bedeutete zugleich die Eroberung des liberianischen Staates durch die bisher ignorierten Einheimischen. Da Doe sofort versuchte, seine Krahn zum neuen Herrschaftsvolk zu erheben, führte das direkt in den Bürgerkrieg – der dann auch Ende 1989 begann. Nach dem Sturz der Siedlerelite war völlig offen, welcher Teil der außerordentlich vielfältigen Bevölkerung Liberias Staat und Wirtschaft kontrollieren solle – und so konnte jeder versuchen, sich selbst an die Macht zu kämpfen.

Die Unfähigkeit der politischen Führer der verschiedenen Ethnien, diese Fragen anders als mit Waffengewalt zu entscheiden, hat inzwischen Hunderttausende von Menschen das Leben gekostet. Mit der vollendeten Zerstörung Monrovias in den jüngsten Kämpfen und der Flucht Zehntausender in seeuntüchtigen Booten hat der Krieg jetzt einen neuen Tiefpunkt erreicht. Liberia scheint so zu enden, wie es einst begann – als Irrfahrt auf dem Meer.

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