piwik no script img

Gestern begann in Istanbul die UN-Konferenz "Habitat II". Thema ist die Stadt als Lebensraum. Zu zwei Zielsetzungen will "Habitat II" Lösungen formulieren: "Angemessener Wohnraum für alle" und "Nachhaltige Entwicklung der Städte". Das Probl

Gestern begann in Istanbul die UN-Konferenz „Habitat II“. Thema ist die Stadt als Lebensraum. Zu zwei Zielsetzungen will „Habitat II“ Lösungen formulieren: „Angemessener Wohnraum für alle“ und „Nachhaltige Entwicklung der Städte“. Das Problem: Die Länder des Südens wollen erst mal wirtschaftliches Wachstum

Immer mehr Leben in der Umweltkrise

Seit gestern tagen sie nun, die offiziellen Delegierten der zweiten UN-Konferenz über menschliche Ansiedlungen, genannt Habitat II. Schon seit Tagen präsentiert sich in der Istanbuler Innenstadt eine bunte Ansammlung von Schlüsselkindern aus aller Welt: Menschen aller Hautfarben, geeint durch um den Hals gehängte Plastikkärtchen mit Namen und Foto – und der Klassifizierung in Delegierte, TeilnehmerInnen des parallel tagenden NGO-Forums und JournalistInnen. Insgesamt sind rund 20.000 Menschen in die türkische Hafenstadt gekommen, deutlich weniger als etwa beim Klimagipfel in Rio de Janeiro 1992, an dem 47.000 Menschen teilnahmen, oder der Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking, wo sich fast 50.000 Delegierte versammelten.

In seiner Eröffnungsrede verwies UN-Generalsekretär Butros Butros Ghali auf die fortgeschrittene Urbanisierung der letzten 20 Jahre: Im Jahr 2000 wird rund die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten leben. Dabei haben sich die Akzente deutlich verschoben: Waren noch 1960 mit Schanghai, Peking und Buenos Aires nur drei der zehn größten Städte der Welt im Süden, so sind heute nur noch Tokio und New York als Vertreter des Nordens in den Top Ten. New York, 1960 noch unangefochten die bevölkerungsreichste Stadt der Welt, liegt heute hinter Tokio, Mexiko Stadt oder etwa São Paulo.

Im Jahr 2020 werden über fünf Milliarden Menschen in den Städten der Welt leben, davon rund 80 Prozent in den Ländern des Südens. Und längst wachsen die Städte nicht mehr nur durch Migration und Landflucht, sondern immer stärker aus sich selbst heraus. Entwicklungspolitische Ansätze der siebziger Jahre, durch eine Stärkung der ländlichen Entwicklung diesen Trend umzukehren, sind obsolet geworden: Wer in der Stadt groß geworden ist, geht nicht mehr aufs Land.

So stellen sich die Entwicklungsprobleme und Zielsetzungen, die auf den vorangegangenen UN- Konferenzen diskutiert wurden, heute vor allem als Probleme der Städte dar. „Probleme der Beschäftigung, des Wohnraums, der Infrastruktur und einer sicheren Umwelt nehmen zunehmend ein städtisches Gesicht an“, sagte Butros Ghali. Die Städte sind zu Ballungsräumen geworden, in denen sich wirtschaftliche und politische Macht immer stärker konzentriert. Bürgermeister der Hauptstadt zu sein, bedeutet in vielen Ländern die Anwartschaft auf den Posten des Regierungschefs. Weltweit mehr als 50 Prozent des Bruttosozialprodukts, so schreibt die Weltbank, wird schon heute in den Städten erwirtschaftet. Gleichwohl werden Entwicklungsprogramme noch immer auf der Ebene der Zentralregierungen diskutiert.

Städter ziehen nicht einfach aufs Land

Entsprechend werden die Verhandlungen über die „Habitat- Agenda“, den globalen Aktionsplan, der die zukünftigen Ziele der Stadtentwicklung formulieren soll, von den Regierungsvertretern geführt – die Umsetzung bleibt den Kommunalverwaltungen überlassen. Deren Rolle ist zwar in den letzten Jahren gestärkt worden, dies aber vor allem deshalb, weil sich die Zentralregierungen im Bemühen um eine finanzielle Konsolidierung ihrer Haushalte aus den klassischen staatlichen Aufgaben zurückgezogen haben. Vielerorts haben die Stadtverwaltungen darauf reagiert, indem sie alle möglichen lokal erhobenen Steuern eingeführt haben – sehr zum Ärger der BewohnerInnen, da die öffentlichen Dienstleistungen gleichzeitig abgebaut wurden.

Die Habitat-Konferenz will zu zwei Zielsetzungen Lösungen formulieren: „Adäquater Wohnraum für alle“ heißt das erste Thema. Aber ob das als Grundrecht in der Präambel der „Habitat-Agenda“ verankert werden soll, ist noch umstritten. Nicht zuletzt die USA wehrten sich auf der letzten Habitat-Vorbereitungskonferenz in New York gegen die Verankerung eines „Rechts auf Wohnraum“.

In der Folge der in Rio verabschiedeten „Agenda 21“ sollte eigentlich die „Nachhaltige Entwicklung der Städte“ als zweites Ziel formuliert werden. Gegen diese Festlegung auf die Städte jedoch wehrten sich die weniger urbanisierten afrikanischen Staaten. Sie bestanden auf dem Begriff der „menschlichen Siedlungsräume“ (human settlements).

Herausgekommen ist die Kompromißformel der „Nachhaltigen Entwicklung menschlicher Siedlungsräume in einer sich urbanisierenden Welt“. Und über den Begriff der Nachhaltigkeit bricht ohnehin der alte Konflikt wieder auf: So bestehen die Länder des Südens vor allem auf das Recht auf wirtschaftliches Wachstum; erst wenn der Entwicklungsstand des Nordens erreicht sei, könne man das Thema der ökologischen Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt rücken.

Noch sind nicht alle Meinungsverschiedenheiten ausgeräumt, noch enthält der Entwurf des 113 Seiten starken Abschlußdokuments eine Vielzahl von eckigen Klammern, die – wie immer bei UN-Konferenzen – Dissens signalisieren. Daran werden sich die Delegierten abarbeiten, bis am 12. Juni, zwei Tage vor Konferenzende, knapp 50 Regierungschefs nach Istanbul anreisen, um der Verabschiedung des rechtlich unverbindlichen Dokumentes beizuwohnen. Bernd Pickert, Istanbul

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen