: Landung links vom Imbiß
Rollbahnen rundum und Dauerdröhnen von oben: 362 Diepenseer wohnen zukünftig mitten auf dem Großflughafen Schönefeld im Süden Berlins – oder ihr Dorf verschwindet ganz ■ Aus Diepensee Jana Simon
Die ignoranten Berliner hielten das Dorf immer für einen See. Wasser ist aber nirgends zu sehen. Es gibt auch keinen Supermarkt und nicht mal eine Dorfkneipe. Die Klinkerhäuser gammeln vor sich hin. Auf der Straße nach Rotberg wird in zehn Jahren vielleicht gerade eine Maschine aus Tokio landen. Karl-Heinz Vogel könnte dann mit etwas Glück von seinem Imbiß links die Landung und rechts die Passagierabfertigung beobachten.
Seit sich die da oben, wie die Politiker im allgemeinen von den 362 Diepenseern genannt werden, für den Ausbau des ehemaligen DDR-Zentralflughafens Schönefeld zum Großflughafen für Berlin und Brandenburg ausgesprochen haben, sieht es nicht gut aus für das Dorf. Es befindet sich direkt neben dem heutigen Rollfeld. Gegen das, was auf den Ort zukommen soll, ist das wenig.
Das einzige Konzept, daß derzeit für den Ausbau Schönefelds vorliegt, sieht für Diepensee die Existenz als Enklave vor. Auf drei Seiten vom Flughafen eingeklemmt, könnte der Ort das erste live Techno-Open-air-Erlebnis Deutschlands ohne musikalische Hilfsmittel werden. Eine andere Möglichkeit ist die komplette Umsiedlung.
Merkwürdige Dinge passieren in der letzten Zeit. Nichtsahnende Bürger werden von Reportern beim Harken auf dem Friedhof gestellt und langwierigen Befragungen unterzogen. Der einzige Imbiß im Dorf avanciert zum Treffpunkt der Berliner Lokalpresse. Niemand kannte das Dorf. Jetzt will man die Stimmung erkunden.
Ganz Diepensee hat auf einen Großflughafen in Sperenberg gehofft. Brandenburgs Ministerpräsident Stolpe (SPD) wollte sich dafür stark machen. Am vergangenen Dienstag unterzeichnete er zusammen mit Berlins Regierendem Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) und Bundesverkehrsminister Matthias Wissmann (CDU) die Empfehlung für Schönefeld.
Alles in Diepensee dreht sich um Flugzeuge...
Letzten Freitag stattete Stolpe den ratlosen Bürgern einen Besuch ab. Die Versammlung artete in einen Kleinkrieg aus zwischen den Einwohnern von Diepensee und denen des Nachbardorfes Rotberg. Die Rotberger setzten sich lautstark gegen die Entscheidung zur Wehr. Die Diepenseer beschuldigten ihr Nachbardorf daraufhin der Militanz. Hätten die Rotberger doch kaum etwas zu befürchten: nur eine lächerliche Startbahn in ihrer unmittelbaren Nähe. Doch die Rotberger sind zum größten Teil Hausbesitzer, sie haben mehr zu verlieren als die Diepenseer.
In Diepensee will niemand so richtig protestieren. Seit sechs Jahren sehen die Dorfbewohner dabei zu, wie ihr Ort langsam zusammenfällt. Wegen der ungewissen Zukunft will hier keiner investieren. Längst fällige Reparaturen werden nicht gemacht. Gut zwei Drittel der Einheimischen wohnen in Miethäusern und nicht im Eigentumsheim. Man wisse nicht, wofür man sich da eigentlich einsetzen soll, sagt Imbißbesitzer Vogel. Er muß seinen Keller mit Propangas heizen, damit er trocken bleibt und es nicht so stinkt. Das Geld, ihn trockenzulegen, würde kein Wohnungsbesitzer dieser Welt mehr bezahlen.
Früher gab es einmal einen Kuhstall, der sich jetzt in einem jämmerlichen Zustand befindet, und eine Schweinemast. Vor der Wende wurden dort 12.000 Schweine großgezogen. „Das Fleisch ging in den Export, die Knochen kriegten die Polen, und die Scheiße blieb hier“, sagt Herbert Fliege-Reuss über die damaligen Verkaufspraktiken. Er und andere des Vereins Aeropark Brandenburg betreiben heute auf diesem Gelände eine Flugzeugausstellung. Der Rentner, nach eigenen Worten von Beruf gelernter Optimist, ist zuversichtlich. Seine aus ehemaligem NVA-Besitz stammenden Exponate werden auch in einem erweiterten Flughafen Platz finden. Er kann hoffen, er wohnt in Berlin.
Es ist verrückt, alles in Diepensee dreht sich um Flugzeuge, aber keiner arbeitet in Schönefeld. Fast jeder Dorfbewohner kann aus jahrelanger Erfahrung die Turbinengeräusche der verschiedenen Flugzeugtypen unterscheiden. Sie alle leben täglich mit dem Krach – und nehmen ihn kaum noch wahr. An ihrem Imbiß hängt ein Schild „Nur für Fachbesucher“, mit einem Flieger darauf. Und ein 25jähriger Österreicher hat gerade am Rande des Ortes ein Café-Bistro mit dem Namen „Fly in“ aufgemacht. Die Dorfbewohner fliegen bei ihm allerdings nur selten ein, und auf Laufkundschaft kann er auch nicht hoffen. Er hat die Räume im DDR-Plattenbau zwischen Flughafen und Feld günstig erworben. Jetzt wartet er auf die nächsten ILA-Besucher in zwei Jahren.
An diesem Tag ist es ruhig. Nur alle Viertelstunde erzittert die Luft von dem Lärm eines Flugzeuges. Günter Miersch kann es noch nicht fassen. Möglicherweise baut er sein Haus gerade auf der zukünftigen Startbahn. Das erste Stockwerk steht schon halb. Der 47jährige hat für seinen Traum vom Eigenheim einen Kredit aufgenommen. Wenn er jetzt aufhört, ist das Geld futsch. „Von Schönefeld war doch seit Jahren keine Rede mehr“, sagt er benommen.
Die Mehrheit von Diepensee hat kein Geld. Ungefähr 30 Prozent sind arbeitslos, sagt Martin Malchow. Er selbst ist es auch. Seine Frau hat Magenkrebs, und sie müssen sich von Krankengeld und Arbeitslosenhilfe mit ihren zwei Kindern irgendwie durchschlagen. Wenn es hart auf hart käme und sie aus ihrer Wohnung raus müßten, könnten sie nicht mal einen Rechtsanwalt bezahlen. Und sie würden einfach gehen, wenn sie wüßten, daß sie die Miete woanders bezahlen könnten. Das allerdings ist ungewiß.
Martin sieht an diesem Vormittag zu, wie sein Schwager schon zum zweiten Mal seinen roten Wartburg poliert. Auf der Straße wächst Gras und aus einer Tür dringt wie ein schlechter Scherz Michael Jacksons Song „They don't care about us“. Der dünne blonde Martin redet gerne viel. Deswegen wird er im Dorf auch der Festredner genannt. Auf der letzten Feuerwehrfete hat er, anstelle des Bürgermeisters, die Ansprache gehalten. Wenn seine Frau wieder gesund wird, kann er sich vielleicht um einen Job kümmern, sagt er plötzlich. Vom Großflughafen erhofft er sich nichts. Die Arbeitsplätze würden sicher andere bekommen.
Derselben Meinung ist auch die Dorfjugend. Sie ist stolz auf den einzigen Jugendklub der Umgebung. Das Klubhaus wirkt einsturzgefährdet. Den Jugendlichen ist das egal. In einem Zehn-Quadratmeter-Raum sitzen sie auf den abgewetzten Sofas ihrer Eltern, rauchen, gucken Fernsehen und feiern Parties. Sie finden sowieso alles beschissen. „Wer irgend was aus sich machen will, muß weg von hier“, sagt der 17jährige René. Seine Eltern wohnen in dem ältesten Haus von Diepensee. „Die denken jetzt darüber nach, ob sie noch neue Deckenplatten ranmachen sollen oder nicht.“
Die Ungewißheit zerfrißt das Dorf. Am 24. Juni wird die endgültige Entscheidung für Schönefeld fallen. Dann will Siegfried Fischer vor Gericht ziehen. Seit 1941 wohnt er im Ort und hat sich hier „eine kleine Oase“ aufgebaut. Er gehört zu jenem Drittel von Diepenseern, die ein Haus besitzen. Das will er nicht aufgeben. Er hat viel Arbeit hineingesteckt.
Das Dorf ist gespalten, diejenigen, die zur Miete wohnen, haben nicht viel zu verlieren. Sie hoffen durch eine eventuelle Umsiedlung, eine bessere Wohnung zu bekommen. Für Fischer wäre Umsiedlung eine Katastrophe, er könnte zwar auf Entschädigung klagen, aber sein Haus wäre weg.
...aber niemand aus dem Dorf arbeitet in Schönefeld
Aber bei allen überwiegt die Resignation, „daß die da oben sich eh keinen Kopp um uns machen“. Der große Protest ist nicht geplant. Frühestens in fünf Jahren würde der Ausbau von Schönefeld beginnen. In der Zeit werden die restlichen Häuser verfallen. Wahrscheinlich werden am Ende alle bis auf die Hauseigentümer freiwillig gehen.
Am Imbiß, dem einzigen Treffpunkt des Dorfes, haben sich inzwischen ein paar Leute zum Bier eingefunden. Der Rentner Vogel betreibt die Bude nur, damit es überhaupt noch einen Ort gibt, wo man sich mal sieht. An einem Tisch sitzen ein paar bayerische Bauarbeiter, die nicht wissen, worum es geht. Vogel hat Angst, daß das Dorf auseinandergerissen wird und daß alle in verschiedene Orte umgesiedelt werden. „Wenn schon, dann sollen die uns ein komplettes neues Dorf hinsetzen.“ Er macht sich auch Sorgen um seine leiblichen Überreste. Eigentümer Fischer beruhigt ihn, er hätte den Pfarrer gefragt, einen Friedhof könne man nicht so einfach plattmachen. Da müßten die ihre Terminals inklusive Trampelpfad schon drumherum bauen. Galgenhumor. Vogel, der seit über 30 Jahren in Diepensee wohnt, feixt, er hätte schon einen Vertrag mit Mövenpick für Flugsteig 7 in der Tasche.
Diepensee wird warten auf das, was da kommen wird. Alle Stunde fährt ein Bus von Berlin-Grünau an das so nahe Ende der Welt. Zum Einkaufen müssen die Diepenseer ins zwei Kilometer entfernte Waltersdorf. Von ihrem eigenen „Konsum“ sind nur die bunten Camel- und Bild-Aufkleber übriggeblieben. Aus den Feldern ringsum ragen riesige Flugradarschirme, und am Ende des Ortes kann jeder den weißen Klotz von Möbel Höffner im Nachbarort bestaunen. Diepensee versprüht den Charme eines postsozialistischen Geisterdörfchens. „Sollen sie das ganze Dorf doch einfach einsacken und in die Erde runtersetzen“, sagt Martin Malchow.
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