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„Zeugnis kenn' ich nicht“

■ Der Tag der Wahrheit naht: Manche SchülerInnen fürchten den 26. Juni, aber es geht ja auch ohne den Giftzettel / Die Eltern dürfen entscheiden

„Zeugnis?“ Der I-Dotz auf dem Waller Ring blinzelt in die Mittagssonne: „Kenn ich nicht.“ - „Wir müssen“, bekräftigt sein Kumpel, „nur immer aus einem Buch vorlesen, das uns der Lehrer gibt.“ Statt Schulzeugnissen erhalten die beiden Erstklässler am übernächsten Mittwoch sogenannte „Lernentwicklungsberichte“. Angst vorm letzten Schultag kennen sie nicht.

Die beiden Sechtsklässler, die auf dem Hof des Schulzentrums Waller Ring einen Tischtennisball übers Netz jagen, sehen dem Datum schon eher mit gemischten Gefühlen entgegen: „In Deutsch habe ich in den letzten Wochen keine gute Arbeit mehr geschrieben“, meint der 13jährige Osman. „Da bekomme ich nun wohl eine Vier, und die bekomme ich nicht oft.“ Auch Yüksel, der dieselbe Klasse besucht wie Osman, hat „ein bißchen Angst“ – ebenfalls wegen Deutsch. Dabei fällt ihm, der aus der Türkei stammt, diese Sprache noch leichter als Englisch: „Da aber stehe ich immer auf Zwei.“

Wenige Meter weiter, im Treppenhaus des Schulzentrums, sitzt ein Mädchen auf den Stufen. Sie habe immer Angst vor dem letzten Schultag, sagt die 14jährige: „Ich darf ja keine Vier haben. Meine Mutter will das nicht.“

Wohin der nahende Zeugnistag einige der rund 50.000 Bremer SchülerInnen bringen kann, davon weiß Walter Rokita ein Lied zu singen. Im Schulpsychologischen Dienst Bremen Süd wird der Seelsorger mit gestörtem Sozialverhalten, gewalttätigen SchülerInnen, Depressionen und auch mit Selbstmorddrohungen konfrontiert. Die Anrufe in der Behörde haben zugenommen in den letzten Jahren, sagt er. Auch die „Qualität der Schwierigkeiten“ hat sich nach Rokitas Beobachtung gewandelt – gipfelten Rangeleien einst noch in einem Schwitzkasten, so malträtieren sich manche Kinder mittlerweile mit gezielten Karate-Tritten. Den Grund dieser Entwicklung sieht der Seelsorger im veränderten Umfeld der Kinder: „Die gesellschaftlichen Umstände schlagen sich auch im Schulbereich nieder.“

In diesen Vor-Zeugnis-Tagen ist das Sorgentelefon in Bremen-Süd besonders gut besetzt. Doch auch im März verzeichneten die Psychologen sehr viele Anrufe, als die Schulen die ersten Blauen Briefe versandten, und LehrerInnen einige ihrer Schützlinge sowie deren Eltern auf die Nicht-Versetzung vorbereiten mußten. 250 Menschen suchten im vergangenen Jahr den Rat des Schulpsychologischen Dienstes Bremen Süd, der links der Weser 40 Schulen betreut. Vor allem Eltern, Lehrer oder auch Leute aus Behörden riefen an. Nur jede/r Zwanzigste von ihnen ging noch zur Schule.

Auch das Mädchen auf der Treppe im Schulzentrum Waller Ring wird sich kaum an den Schulpsychologischen Dienst wenden. „Zuerst würde ich mit meinen Eltern reden,“ meint die Achtklässlerin, „so groß ist die Angst dann wieder auch nicht.“ Osman hört vom Angebot des schulpsychologischen Dienstes zum ersten Mal. „Wenn ich nur Fünfen und Sechsen auf dem Zeugnis hätte“, sagt er, „dann würde ich da vielleicht hingehen.“

Der Angst vor den Fünfen und Sechsen können Bremer Eltern selbst vorbeugen, wenn ihre Kinder noch in die Grund- und Gesamtschule und in die Orientierungsstufe gehen: Es liegt in ihrer Entscheidung, ob die KlassenlehrerInnen Zeugnisse oder aber, wie ohnehin in den ersten beiden Schuljahren, Lernentwicklungsberichte verfassen. „Zensuren reduzieren die Leistung eines halben Jahres auf eine Zahl und vermögen nicht zu differenzieren“, kritisiert ein Sprecher von Bildungssenatorin Bringfriede Kahrs das hergebrachte Zeugnis: „Es sind aber gerade die Eltern, welche sie beibehalten wollen. Wenn auf dem Zeugnis eine Vier steht, dann können sie damit etwas anfangen.“

Dabei stehen dem Leistungs-Attest ohne Zensuren nicht nur Eltern skeptisch gegenüber. „Ich finde das Zeugnis besser“, sagt etwa Osman. „Sonst weiß man ja gar nicht, welche Note man hat.“ Und das Mädchen im Treppenhaus winkt ab: „Da stehen dann vielleicht ganz andere Sachen drin, die meine Mutter erst recht nicht hören will.“

Bernd Neubacher

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