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"Kein Eiland des Elitemenschen"

■ Seine Materialsammlung über den Kampf der Avantgarde gegen das "Gespenst Masse" hat ihn zum Nestbeschmutzer gemacht: Der Literaturwissenschaftler John Carey über die Pflicht zur Popularität und die Neigung

taz: Als Ihr Buch in England erschien, war die Entrüstung groß. Was steckt Ihrer Ansicht nach dahinter?

John Carey: Das liegt wohl daran, daß das Buch von Intellektuellen rezensiert wurde, also genau von jenen, mit denen ich mich auseinandersetze. Daß man sich aber in einer wahren Flut von Besprechungen derart aufregen würde, verblüffte mich. Vor allem überraschend war ein immer wiederkehrendes Argument: Ein Literaturprofessor dürfe Schriftsteller nicht angreifen, da er durch sie ja seinen Lebensunterhalt verdiene. Ich war über Nacht zum Nestbeschmutzer geworden: Wenn man Schriftsteller wie T.S. Eliot, W.B. Yeats oder D.H. Lawrence kritisiert, greift man etwas Heiliges an.

Wie kam es dazu, daß die Schriftsteller der Moderne eine solche entrückte Position erringen konnten?

Um 1870 wurde in England die allgemeine Schulpflicht eingeführt, und es gab in der Folge plötzlich eine wesentlich größere Lesegemeinde. Dazu mußten Intellektuelle sich verhalten. Entweder sie begrüßten diese neue Entwicklung und schrieben für die neuen Leserschichten, oder sie distanzierten sich. Wells und Bernard Shaw zum Beispiel schrieben für die neuen Leser. Eliot, Ezra Pound und Lawrence dagegen schrieben in dem Bewußtsein, daß sie von den neuen Lesern nicht gelesen werden und daß sie als Autoren darauf auch keinen Wert legen. Eliot zum Beispiel meinte, gerade angesichts des zunehmenden Lesepublikums müsse man kompliziert und unverständlich schreiben.

Ist dieser Weg nicht jedem freigestellt? Sie kritisieren in Ihrem Buch doch eher die Art und Weise, in der auf das Publikum herabgesehen wurde?

Sicher. In dem ersten Punkt sind wir uns ja schnell einig. Wenn Eliot aber allen Ernstes fordert, die Masse dürfe nicht lesen lernen, dann sind wir doch heute damit auf keinen Fall einverstanden. Interessant wird es erst, wenn wir fragen: Hat ein Schriftsteller tatsächlich das Recht, nur für einen kleinen Zirkel zu schreiben?

Wie ist Ihre Antwort?

Das ist unverantwortlich! Schriftsteller haben ein bestimmtes Talent und eine spezielle Ausbildung und sollten das sinnvoll nutzen. Wenn ein Schriftsteller explizit sagt, er wolle nur für die Happy Few schreiben, dann handelt er genauso unverantwortlich wie ein Doktor, der nur Reiche behandelt.

Müssen Sie dann nicht auch Avantgardeliteratur ablehnen?

Das ist ein Punkt, der mich beunruhigt. Ich kann das Argument nicht von der Hand weisen, Avantgardeliteratur sei dem breiten Publikum unverständlich, weise mit seinem ästhetischen Anspruch aber einen Weg, der später beschritten wird. Ich muß allerdings sagen, daß ich diesem Argument mißtraue, da es Gegenbeispiele gibt. Shakespeare war ein nach ästhetischen Kriterien großer Schriftsteller, zugleich aber auch populär. Dasselbe würde ich für Charles Dickens und aktuell für Alan Ayckbourn sagen, der sehr wichtige Zusammenhänge künstlerisch gelungen und so auf die Bühne bringt, daß jeder es verstehen kann.

Kann es nicht gerechtfertigt sein, wenn Intellektuelle sich schreibend von bestimmten Phänomenen der Massenkultur abgrenzen?

Natürlich. Ich finde es nur unverantwortlich, sich zum Beispiel heute über den degenerierten Massenmenschen zu echauffieren, der den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzt, ihm auf der anderen Seite aber genau jene Errungenschaften unserer Kultur vorenthalten zu wollen, für die man selbst eintritt. Der Massenmensch, wer immer das auch sein mag, ist nicht per se dumm. Es wäre doch sehr interessant, was passieren würde, wenn die Intellektuellen, die sich vom Fernsehen abgrenzen, einmal für das Fernsehen schreiben und die Menschen in diesem Medium mit ihrer Kunst beglücken würden. Ich habe den Verdacht, daß viele von ihnen lediglich einer Herausforderung ausweichen.

Sie kommen in Ihrem Buch auch kurz auf James Joyce' „Ulysses“ zu sprechen. Tritt da nicht ein Widerspruch auf, da Joyce mit seinen inneren Monologen ein Avantgardist war, andererseits aber mit dem Anzeigenakquisiteur Leopold Bloom einen stinknormalen Alltagsmenschen zum Helden machte?

Ich bin ein großer Bewunderer von Joyce, Pound und Eliot, frage mich aber: Für wen haben die eigentlich geschrieben? Wenn sie mit Joyce-Spezialisten sprechen, sagen die immer, daß in New York und Dublin alle Taxifahrer den „Ulysses“ lesen. Ich würde das gerne glauben, denke aber, daß es nicht stimmt. Sie haben recht, Leopold Bloom ist ein Mensch von nebenan. Aber genau deshalb, weil Joyce soviel Sympathie für den sogenannten Alltagsmenschen hatte und nicht dünkelhaft auf ihn herabsah, bedauere ich, daß er nicht für den Menschen von nebenan schrieb. „Ulysses“ ist ein Meisterwerk, hätte Joyce verständlicher geschrieben, hätte er tatsächlich die Literatur des 20. Jahrhunderts verändert.

Hat er das nicht getan? Und hat er es nicht gerade getan, weil er nicht leicht verdaulich schrieb?

Ich denke nicht, daß sein Einfluß so groß ist, wie immer behauptet wird. Wer schreibt denn in England heute in der Tradition von Joyce? Niemand! Man kann aus dem „Ulysses“ nichts lernen und ihn nicht imitieren, er ist ein Schlußpunkt. Nehmen Sie als Gegenbeispiel H.G. Wells' „Time Machine“, den ersten englischen Science-fiction-Roman. Mit ihm hat Wells tatsächlich die Literatur verändert, eine Flut von Science-fiction-Literatur angestoßen.

Ihr Paradebeispiel für den sich abgrenzenden Intellektuellen ist D.H. Lawrence. Könnte man sagen, daß er, der ja selbst aus der Unterklasse kam, ein Idealbild vom normalen Menschen hatte – das sich dann leider als Illusion herausstellte?

Das stimmt zum Teil. Ein anderer Grund war pure Angst. Im 19. Jahrhundert hatte sich die Bevölkerung in England verdoppelt, und Lawrence befürchtete, dieses Gespenst „Masse“ würde mit seinen niederen Instinkten die hehren Errungenschaften unserer Zivilisation zerstören.

Sie schreiben, daß sich Intellektuelle dieser Zeit von der zunehmenden Arbeitslosigkeit bedroht fühlten.

D.H. Lawrence zum Beispiel haßte die Gewerkschaften und kam merkwürdigerweise auf den Gedanken, sie agierten direkt gegen ihn.

Was ist der Grund für das unter modernen Intellektuellen verbreitete Elite-Bewußtsein?

Allen gemein ist, daß sie schon sehr früh bemerkten, daß sie sensibler und begabter als andere waren. D.H. Lawrence etwa wurde als Kind viel gehänselt und fühlte sich durch die Hänseleien tief verletzt. Also rettete er sich schon sehr früh auf sein Eiland des Elitemenschen. Anders H.G. Wells. Auch er kam als Kind von Bediensteten aus der lower class und war hochbegabt, hatte aber Zeit seines Lebens ein soziales Bewußtsein und zog andere Schlüsse.

Kennen Sie Botho Strauß, der in Deutschland gegen die Niederungen des medialen Zeitalters zu Felde zieht?

Ich finde genau diesen Punkt faszinierend, daß inzwischen das Massenmedium Fernsehen zur Zielscheibe geworden ist.

Die Mentalität, die Sie in Ihrem Buch beschreiben, findet man auch bei Botho Strauß: Der Intellektuelle meint zu wissen, wie der sogenannte Massenmensch ist, reproduziert aber nur, was er angreift: Stammtischparolen.

Ich bin immer wieder darauf gestoßen, daß Intellektuelle genau dann zu verallgemeinernden Schlüssen neigen, wenn sie über et

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was schreiben, das sie gar nicht aus eigener Anschauung kennen. Sie erfinden das, wogegen sie dann opponieren. Deshalb bin ich ein großer Bewunderer von George Orwell, weil der tatsächlich bettelte, sich als Hopfenpflücker verdingte, durch die Gegend trampte und in Nachtasylen schlief.

Eine weitere Konstante ist die Glorifizierung archaischen, naturverbundenen Lebens. Was ist Ihrer Ansicht nach der tiefere Grund?

Urvater des zivilisationsmüden Zweiges der Intellektuellen ist Nietzsche. Für ihn und seine Jünger ist das Christentum mit seiner Lehre des „Liebe deinen Nächsten“ zum Hauptproblem geworden. Für Nietzsche bedeutete das Schwäche, Unmännlichkeit, so daß er von einem starken, archaischen Leben träumte, das um Purismus, männliche Stärke und Töten kreist. Englische Intellektuelle wie Lawrence und Eliot haben Nietzsche verschlungen und reagierten vehement gegen das Christentum. Stellen sie sich den Horror dieser elitären Individualisten vor: Da nimmt die Bevölkerung in den Vororten immer mehr zu, London wird zur Megametropole, und dann soll man auch noch seinen Nächsten lieben.

Sie zitieren Oscar Wilde mit dem Satz „Die Ästhetik steht über der Ethik“. Mir wurde nicht klar, was Sie davon halten.

Ästhetik hat damit zu tun, wie man ein Kunstwerk beglaubigt, Ethik, wie man sein Verhalten gegenüber Menschen beglaubigt. Daß die schöne und nach allen Regeln durchgeführte Kunstproduktion wichtiger sein soll als das rechte Verhalten gegenüber den Menschen, kann ich nicht akzeptieren. In England ist gerade ein Buch von Anthony Julius über den Antisemitismus von T.S. Eliot erschienen. Darin wird Eliot sehr scharfsinnig kritisiert. Während einer Radiodiskussion mit Julius war ich dann doch überrascht, als er sagte, Eliot sei sowohl Antisemit als auch großer Künstler gewesen, er habe mit seinen Büchern also große antisemitische Literatur geschaffen. Ich kann nicht akzeptieren, daß etwas antisemitisch und zugleich große Kunst sein soll. Ich würde sagen, Ethik muß die Ästhetik durchdringen.

Für mich ist Knud Hamsun einer der größten Erzähler dieses Jahrhunderts. Er war aber überzeugter Parteigänger Hitlers. Würden Sie sagen, seine Bücher müssen weggeschlossen werden?

Zensur lehne ich strikt ab, plädiere aber dafür, daß man die beiden Seiten der Literatur, die ästhetische und die ethische, in Beziehung setzt. Man sollte sich ein Urteil bilden und die Debatte suchen.

Könnte man nicht auf den Gedanken kommen, daß Sie für eine Literatur im Sinne der Political Correctness plädieren?

Auf keinen Fall, da Political Correctness für mich eine Form der Zensur ist. Es soll alles geschrieben und gelesen werden, was vorstellbar ist. Man muß dann allerdings auch diskutieren, wann und warum ein Schriftsteller sich vergreift. Interview: Jürgen Berger

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