piwik no script img

Die kleine Wende von Luckow

Sie arbeiten, wo es keine Arbeit gibt: 20 ABM-Frauen im nördlichen Brandenburg hauchen ihrem Dorf wieder Leben ein – und helfen sich selbst  ■ Von Thorsten Schmitz

Das Modernste in Luckow-Petershagen ist ein Sendeturm der Telekom auf den Äckern gleich hinter den Plumpsklos. Ein Mast für Handys.

Das Aufregendste sind Autos ohne das ortsübliche Kennzeichen – ihnen gucken ausnahmslos alle 450 Einwohner lange hinterher. Als hätte sich der Papst hierher verirrt.

Und das Langweiligste ist das Leben. Es bietet nichts, aber auch gar nichts. Luckow-Petershagen, eigentlich zwei Mikro-Käffer im uckermärkischen Teil von Brandenburg, die 1990 zwangsvereinigt wurden, liegt im Wendekoma. Und alles spricht dafür, daß es daraus nicht erwacht. Die Menschen verstecken sich hinter den Gardinen – und schämen sich für einen deutschen Rekord, den die Bild- Zeitung regelmäßig in nachrichtenarmen Zeiten zum Titel ausschlachtet: Achtzig Prozent der Luckower sind ohne Beschäftigung, nirgendwo ist die Arbeitslosenrate höher. Die Menschen gucken Fremden ungern in die Augen – und sie schweigen. Als hätten sie sich selbst gefeuert.

Nur einmal am Tag fährt ein Bus in die nächstgrößere Stadt Casekow, die Straßen sind aus Staub oder Jahrhundertwendesteinen, es gibt kein Kino, kein Schwimmbad, kein Hotel, keinen Jugendtreff, keinen Sportplatz, keinen Bäcker, noch nicht mal einen Videoverleih – dafür aber viele Schlaglöcher, bröckelnde Fassaden und zwei Kneipen, wovon eine im September dichtmacht. Das munkelt man. In Luckow-Petershagen schlagen die Menschen die Zeit tot bei einem Bier für 1,50 Mark.

Früher gab es eine Freiwillige Feuerwehr, die das gesellschaftliche Leben dominierte, und einen Konsum, in dem Leute einkauften und zum Schwatzen stundenlang blieben. Heute gibt es einen unverschämt teuren Minimarkt mit Fernet Branca, in dem die Menschen schnell „Guten Tag“ nuscheln – um sich dann wieder vor den Fernseher zu verziehen. Die Zeit ist nicht stehengeblieben, sie läuft rückwärts.

Bevor die DDR abhanden kam, lebten beide Dörfer von der LPG und der privaten Viehwirtschaft. Heute kommt zweimal die Woche ein mobiler Metzger im VW- Transporter und hupt die Luckower auf die Straße. Die Erinnerung an Melken, Züchten, Schlachten ist die Nabelschnur, von der die Luckower sich nicht losmachen. Es gibt nicht wenige, die wünschen sich die DDR zurück. „Wir wurden nicht gefragt“, sagt eine Luckowerin im Minimarkt. Und wenn man sie gefragt hätte, DDR oder Gesamt-BRD? „Die Antwort können Sie sich denken.“ Wenn Pfarrer Armin Templin so was hört, verliert er die christliche Contenance und knöpft sich den Reminiszenten persönlich vor: „In der DDR soll es besser gewesen sein? Das macht mich wütend. Die sollen mal in den Osten gucken, nach Rußland oder nach Polen.“

Der einzige Arbeitgeber am Ort, der LPG-Erbe „Landwirtschaftliche Erzeugergenossenschaft“, beschäftigt gerade mal 25 Luckower, früher waren es zwanzigmal so viele. Ein paar Tiefbauer, Maurer und Heizungsfachleute fahren weite Wege nach außerhalb. Ansonsten ist in Luckow immer Sonntag. Am stärksten leiden darunter die Frauen: Fast alle sind arbeitslos, vollgebremst in ihrer Tatkraft, in ihrem Können. Zehnstundentage gehörten zum Alltagsrepertoire, heute müssen sie sich anstrengen, den Tag zu füllen. Wer keinen Führerschein besitzt, und fast keine besitzt einen Führerschein, kommt noch nicht mal raus aus dem Dorf.

Die Situation in Luckow-Petershagen war so ausweglos, daß die Jugend sich in größere Städte verflüchtigt hat, Pfarrer Templin in drei Jahren nur einmal trauen konnte und viele Häuser leer stehen. Die Versuche von Immobilienmaklern, die Häuser an Wochenendurlauber zu verkaufen, schlugen fehl. Der Aufschwung Ost, in Wahrheit Abschwung Luckow, schreckt die Käufer.

Doch dann, vor zwei Jahren, erzwangen zwanzig Frauen ihre eigene Wende. Sie beantragten beim Arbeitsamt und beim Träger „Uckermärkischer Berufsförderungsverein“ (UBV) Stellen auf ABM- Basis – und tatsächlich erhielten sie ein Ja. „Viele“, sagt Renate Kersten, „wollen ohne ABM gar nicht mehr leben.“

Renate Kersten, 56, erschuf das „Frauenprojekt Luckow-Petershagen“, sie ist der Motor eines hochmotivierten Frauenteams, das die Ehemänner mit Staunen und mit ungläubigem Schweigen zur Kenntnis nehmen. Das Leben in die Hand nehmen – auch so eine Wendewendung – wäre in Luckow-Petershagen eigentlich Männersache. In den Köpfen der Frauen schwingt die zeitlich begrenzte Hoffnung, nun doch noch für was gut und da zu sein, immer mit. Und sie arbeiten so, als gäbe es den 18. Februar 1997 nicht. An diesem Tag läuft das ABM-Projekt aus. Es ist schon einmal verlängert worden.

Das zwanzigköpfige Dream Team von Luckow hat dem komatösen Flecken ein wenig Leben eingehaucht. Die Frauen organisieren Kinderbetreuung und Seniorennachmittage, Sommerfeste und AOK-Aufklärung über Heilpflanzen und Rückenschmerzen, sie beackern ein 2.200 Quadratmeter großes Feld mit Erdbeeren, Zwiebeln, Kartoffeln, Tomaten, Gurken, Bohnen, Kräutern und Eisbergsalat, zaubern aus Holunderblüten Sekt und aus Ringelblumen Salbe. Das Schloß, in dem die LPG-Kantine untergebracht und das bis vor zwei Jahren noch schrecklich verfallen war, brachten sie auf Vorderfrau: Sie schlugen den Putz ab, verfugten und strichen die Wände optimistisch weiß, sie verlegten Elektroleitungen und vertäfelten den Keller – heute hat das Dorf wieder einen Treffpunkt für Jubiläen und Weihnachtsfeiern. Die Woche der Landfrauen a.D. hat 40 Stunden, das impft ihnen Selbstbewußtsein ein.

ABM empfinden sie als Segen, nicht als Vortäuschung falscher Tatsachen. „Natürlich“, sagt Angela Schröder, 37, „natürlich hätten wir gern alle einen festen Arbeitsplatz. Aber so was gibt es hier ja nicht.“ Schon längst zählt sie ihre Bewerbungen nicht mehr, einen Job als Fleischverkäuferin, ihrem gelernten Beruf, findet sie partout nicht, obwohl sie flexibel ist: „Ich habe ein Auto und würde auch bis Prenzlau fahren.“ Sie feiert heute Geburtstag, und ihr größter Wunsch ist Gesundheit. „Das ist schließlich die Voraussetzung, um arbeiten zu können.“

Die Frauen, deren Leben mal ausschließlich von Hammer, Hacke und Harke bestimmt war, geben dem verwaisten Dorf die Infrastruktur wieder, die nach Ansicht der Bürgermeisterin Donata Oppelt so sehr fehlt. Sie fungieren als Sozialamt, Jugendhaus, mobile Altenbetreuung und bringen Schülern gesund Frühstücken bei. Sie geben der Nachkriegskulisse Marktplatz und Seele. Preiswerter kommt eine Kommune kaum weg. Die erste ABM-Projektstufe lautete „Hilfe zur Selbsthilfe“, die zweite, nun laufende: „Verbreitung sozialer Strukturen“. Insofern haben die Frauen ihre Hausaufgaben gemacht, sie sind Streberinnen. „Zu Hause“, sagt eine, „würde mir die Decke auf den Kopf fallen.“

Manche belächeln die Frauentruppe, machen sich lustig darüber, daß sie Johannisbeergelee kochen, den sie nicht verkaufen dürfen, daß sie Gärten verschönern und nichts dafür bekommen. Doch damit, sagen die Frauen unisono, „können wir leben“. Der Zusammenhalt immunisiert sie gegen Häme und höflicher vorgetragene Kritik. Ihre Produkte liefern sie zum großen Teil an den UBV ab, der wiederum Altenwohnheime und Schulen damit beglückt. Sie lernen schließlich auch noch was, Weiterbildung auf Kosten des neuen Staates, der sie vier Jahre hat links liegen lassen: Einmal im Monat plaudert eine Psychologin mit ihnen und all den anderen Dorfbewohnern über Toleranz gegenüber Minderheiten oder über die Folgen von plötzlicher Arbeitslosigkeit. „Die kommt“, sagt Erika Schwarz, 58, „und baut uns uff.“

Und manchmal lassen sie sich aufklären über die Kunst des Kreuzstichs, an diesem Donnerstag schaut die Besitzerin eines Handarbeitsladens aus Schwedt vorbei. Es bleibt nicht lange beim Sticken, schnell sind die ABM- Frauen bei dem einen Thema, das sie zusammenkittet und auseinanderdividiert: Arbeitslosigkeit. Bei Kaffee und Kuchen erzählen sie von ihren Kindern, die keine Lehrstelle finden, daß sie Toastbrot zum Frühstück essen, weil es doch keinen Bäcker gibt, und auch von den wenigen Luckowern, die Arbeit haben – und einen deshalb nicht mehr kennen: „Einer“, sagt Gertrud Bartsch, 43, „mit dem ich in der LPG zusammengearbeitet habe, und der jetzt wieder sein Geld verdient, grüßt mich noch nicht mal mehr.“ In solchen Momenten entsteht Wendefrust.

Mit dem ABM-Salär kommen die Frauen aus dem nördlichsten Zipfel von Brandenburg gerade so über die Runden, „mit Grauen“, sagt Renate Kersten, „denken wir an den Februar“. Urlaube sind nicht drin, höchstens mal ein Tagesausflug an die Ostsee. Zigaretten, Butter und Pullover kaufen sie in Stettin, das eine halbe Stunde entfernt liegt. Und deshalb lachen die Frauen, als die Dame vom Handarbeitsladen eine gestickte Decke für 1.000 Mark zeigt: „Das ist ja unser Monatsgehalt, das werden wir uns nie leisten können.“

Den Traum auf einen festen Job in ihrem Alter – den haben sie aufgegeben. Die Hoffnung, daß das Arbeitsamt die dritte Projektstufe vielleicht doch noch bewilligt, nicht ganz. Die Bedingung der dritten ABM-Stufe hieße „Existenzgründung“. Eine Idee haben die Frauen bereits: Sie würden gern Touristen nach Luckow locken. Die Plumpsklos würden dann verschwinden, und die Hotelbetten stünden in der ehemaligen LPG-Kantine. „Wir sind zwar das Letzte“, sagt Renate Kersten und meint das ganz geographisch, „aber wir sind die ersten, die schuften.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen