: Das Denkmal Washington
Strahlend und mächtig stehen das Weiße Haus und das Kapitol an der Mall. Unweit vom Regierungsviertel jedoch beginnt ein ganz anderes Amerika, das nicht nur nachts dunkel ist ■ Von Marc Bielefeld
James war neun Jahre alt, als er aus South Carolina nach Washington D.C. kam. Seine Familie hatte genug vom rüden Süden und wollte in Amerikas liberaler Hauptstadt ein neues Leben beginnen. Heute, mit 36, wünscht sich James, niemals hierhergekommen zu sein. Die Stadt, so glaubt er fest, habe ihn kaputtgemacht. Er wuchs in eine Realität hinein, der er nicht mehr entkam. Drogen, Straßenkriminalität, Raub, Gefängnis. Seit einem Jahr lebt er mit seiner Frau auf der Straße, unten am Kanal unter einer Brücke im weißen Viertel Georgetown, ein paar Blocks von den bunten Geschäften entfernt. Seine Möglichkeiten, jemals wieder ein normales Leben zu führen, sieht er nüchtern und realistisch. Er hat so viele Chancen wie Zähne im Mund: keine mehr.
Die Schuld schiebt er sich selbst zu. Er war jung, wußte nicht, wie das Spiel läuft, meint er. Inzwischen ist er anständig und versucht sich legal über Wasser zu halten. Er bettelt und geht bei Privatleuten fegen. Hinterhöfe, Vorgärten, Bürgersteige bringen an guten Tagen ein paar Dollar. An den Wochenenden kommen die von der Kirche und bringen Essen, Decken und Klamotten, manchmal auch Medikamente. Washington D.C. hat knapp 600.000 EinwohnerInnen. Siebzehn Prozent von ihnen leben unterhalb der Armutsgrenze. Zahlen darüber, wie sich die Bevölkerung innerhalb dieser Gruppe zusammensetzt, kennt keiner. Aber einen weißen Penner in D.C. zu entdecken kann Tage dauern.
Amerika 1996 – die USA im Wahlkampf. Vorrangige Frage der Präsidentschaftswahlen: Wer zieht ins Weiße Haus ein? Die Welt wird im November auf Washington schauen, zahllose Reporter werden mit ihren Mikrofonen – ein bekanntes Bild – vor dem Präsidentensitz an der Pennsylvania Avenue stehen und berichten.
Besucher aus aller Welt werden durchs Regierungsviertel ziehen, vorbei an amerikanischer Geschichte. Vorbei am Washington Monument, am Kapitol, am Thomas-Jefferson-Denkmal, am Lincoln Memorial, alles weiß gestrichen. Vorbei an den Museen der Smithsonian Institution, vorbei an der Vietnam Veterans Wall, zurück zum White House. Das kleine Museum für afrikanische Kunst reiht sich wie eine leise Entschuldigung in die Runde der Prachtbauten ein. Wie eine Zahnlücke im ewigen amerikanischen Keep-smiling. Es liegt unter der Erde.
Dabei hat der Berührungspunkt mit afroamerikanischer Geschichte einen guten Grund. Nicht nur weil die Stadt Marion Barry einen farbigen Bürgermeister hat. Was die wenigsten wissen: Washington ist in erster Linie eine schwarze Stadt. Amerikas Minderheit ist hier die Mehrheit, fast siebzig Prozent der Bürger sind Afroamerikaner. In Washington, dem District of Columbia, ist afroamerikanische Geschichte geschrieben worden, sind wichtige schwarze Institutionen entstanden und hat sich eine urbane schwarze Kultur entwickelt.
In Washington herrscht immer noch segregation – Rassentrennung. Das schreibt selbst der „Fodor's“, von Newsweek als der „King“ der Reiseführer bezeichnet, in einem knappen Satz: „Schwarze und Weiße arbeiten heute zusammen in den Downtown-Büros, aber sie verschwinden in unterschiedliche Richtungen, wenn sie abends nach Hause fahren.“ Der Busfahrer der G2-Linie kennt die ungeschriebenen Grenzen in D.C., die jenseits der geographischen Aufteilung in vier Bezirke und numerierte Straßen existieren. Spätestens wenn er die Gegend um die zehnte Straße ostwärts quert, sind in der Regel keine Weißen mehr zu sehen. Der Bus pendelt täglich wie ein stummer Zeuge zwischen diesen Welten.
Seine Route beginnt an der Elite-Uni Georgetown im weißen Nordwesten. Im Viertel mit den vielen Geschäften, Bars, Musikclubs und den hübschen kleinen Holzhäusern tummeln sich überwiegend Studenten. Weiße, Schwarze, Asiaten, Europäer, Südafrikaner, all jene, die von der High-School gute Noten mitgebracht und sich mit Dad arrangiert haben. Der Bus fährt ostwärts. Vorbei geht es am lebhaften Dupont Circle, die P-Street runter. Spätestens am Logan Circle, Höhe dreizehnte Straße, kommt die weniger bekannte Stadt zum Vorschein. Hier ist Washington schwarz. Die Viertel stammen noch aus der Zeit der großen Migration, als um die Jahrhundertwende Hunderttausende Farbige nach Norden kamen, um in den Großstädten Arbeit zu finden. Die wenigen Weißen, die heute in dieser Gegend tagsüber zu tun haben, erkennt man schon aus der Ferne. Sie gehen einen Schritt schneller.
Je weiter der Bus an den Rand des Nordostbezirks kommt, desto mehr ändert sich die Aussicht. Die Straßen wirken verlassen, nur vereinzelt sind mal ein kleiner Liquor Store oder ein Barber Shop zu sehen. Die Häuse sind zum Teil verfallen, Fenster vernagelt, und die Holzzäune um Kirchen oder Spielplätze sind hier aus Draht. Es ist nicht mehr weit zum Nord- und Südosten der Stadt. Dort beginnt das Ghetto. Die meisten – Schwarze und Weiße – kennen es nur von Horrormeldungen aus der Zeitung. Washington ist auch als Mord-Hauptstadt der USA bekannt.
Endstation ist die Howard University, die wie eine Oase in einem schäbigen Wohngebiet liegt. Die schwarze Elite-Uni gilt als die beste schwarze Bildungsstätte in den USA und ist ein wichtiges Zentrum für schwarze Intellektuelle.
Unmittelbar außerhalb des Universitätsgeländes beginnt eine andere Welt mit anderen Gesetzen. Die Menschen, die hier leben, brauchen keine Bücher, um ihre Realität zu begreifen. Die funktioniert nach einem simplen Prinzip: „Haben oder Nichthaben. Mit letzerem hat man sich angefreundet. Der schwarze Kulturkreis, der hier entstanden ist, hat mit dem bekannten Bild der Weltstadt Washington wenig zu tun. Die Geschwindigkeit der Geschäfts- und Politikstadt Washington ist hier auf die gemächlichen Umdrehungen eines Lincoln oder Cadillacs aus den siebziger Jahren reduziert. Wenn er noch existiert, steht er meist ohne Radkappen direkt vor dem Haus und wird nur noch zur allsonntäglichen congregation – zur Kirche – ausgefahren.
Hier und da gibt es einen Soul- food-Store oder einen alten Barber Shop – den Friseur, der eigentlich mehr Treffpunkt ist, wo man rumhängt, diskutiert und Witze reißt. In keinem anderen Stadtteil wird das „th“ so sehr als „d“ gesprochen wie hier – schwarzer Slang. Auf den porches, den eigentlich für die Südstaaten typischen Veranden, sitzen im Sommer die älteren Herren der schwarzen Schöpfung zusammen. Sie zocken, spielen Karten oder Domino. Quatschen, lachen und feixen, was das Zeug hält. Die Frauen sind im Haus, unter sich. Die Kinder spielen auf der Straße oder lauschen gebannt, wenn Opa mal wieder die Regierung auseinandernimmt oder von den Zeiten seines eigenen Großvaters erzählt. Obwohl er's nie tut, aber jeder kennt den Unterton in seiner Stimme.
Von diesem Teil Washingtons aus gesehen, erscheinen den Menschen die saftigen grünen Wiesen rund ums Weiße Haus wie eine Fata Morgana. Zu oft schon mußte sich ihr Glaube an die Regierung in Luft auflösen. Die Gleichberechtigungsprogramme für Bildungs- und Arbeitsplätze sind ein Beispiel. Für viele öffentliche Schulen etwa ist die Belegschaft gesetzlich vorgeschrieben: soviel Prozent weiß und soviel schwarz. Oft sind die schwarzen Schüler längst in der Mehrzahl, die weißen kommen nicht nach. Sie können die privaten, besseren Schulen bezahlen. Absurde Folge: Ohne weiße keine schwarzen Zugänge mehr. Wer hat, darf büffeln. Wer nicht hat, spielt weiter Streetball. Viele Schulbänke bleiben leer.
Die Aktion „Hands on D.C.“ will Abhilfe schaffen. Man will öffentliche Schulen wieder aufpäppeln, aus eigener Tasche, durch Spenden und eigenen Schweiß. Überall hängen an Haltestellen und Ampeln Zettel: „Packt mit an!“ Es soll gestrichen, geschreinert und organisiert werden, um Bildung wenigstens einigen jener zu schaffen, denen das Gesetz nicht hilft.
Diese Hilfsbereitschaft ist – selbst im schwarzen D.C. – keine Frage der Rassenloyalität mehr. Wer einmal in seinem Bürosessel sitzt, geht in keiner Schule mehr schuften, egal ob weiß, schwarz oder grün. Übrig bleiben einige Kirchengemeinden, karitative Organisationen oder mutige Bürgerinitiativen. Schwarze Intellektuelle sind deswegen alarmiert und erkennen einen dramatischen Bruch auch im afroamerikanischen Kulturkreis, frei nach dem Motto „Sein oder Nichtsein“. „Seit Martin Luther King Jr gestorben ist, hat sich die schwarze Mittelschicht vervierfacht. Gleichzeitig ist die Zahl der farbigen Armen und Obdachlosen unproportional gestiegen. Beste Zeiten für unsere Mittelklasse“, schreiben zynisch die beiden schwarzen Autoren Henry Louis Gates Jr und Cornes West in ihrem gerade erschienenen Buch „The Future of the Race“.
Ein Vortrag bringt sie nach Washington. In einer unitären Kirche, der All Souls Church, ernten sie Applaus für ihre Worte. Ehrlichen Applaus, obwohl sie sagen, was wenige hören wollen. Sie erzählen von „bösem“ Rap, von frustrierten Jugendlichen, die sich auflehnen, von den Armen auf der Straße. Sie befürworten diese schwarze Subkultur, die versucht, ihre eigene Sprache zu formulieren und ihre Welt beim Namen zu nennen. Und die beiden Professoren reden von der Verantwortungslosigkeit jener Schwarzen, die eine Generation zuvor die Bänke in Howard, Yale und Harvard gedrückt haben und nun in Büros sitzen mit weit heruntergezogenen Rollos. Ärzte, Rechtsanwälte, Richter – längst Synonyme für amerikanischen Kapitalismus, weißen und schwarzen.
„Ohne Armstrong kein Charlie Parker, ohne Parker kein Monk, ohne Monk kein Coltrane“, beschwört Cornel West das Prinzip der Weitergabe von Wissen und gegenseitiger Verantwortung. Die Kirche ist still, wenn der Mann mit dem Afro-Look redet, denn er beschwört auch alle anwesenden Zuhörer. „Wir können uns nicht ausruhen auf dem, was unsere Bürgerrechtler jahrzehntelang erkämpft haben“, flüstert er. Doch Mister West weiß, wie verzweifelt der Weg von intellektuellen Gedanken zur faktischen Realität ist. Alle in der Kirche kennen die Kriminalitätsrate in Washington. Jede Woche ist die große Doppelseite des Crime-Reports in der Washington Post Zeuge. Jeder dritte Schwarze der Stadt hat die Gefängnismauern schon von innen gesehen.
Ausgerechnet die Hauptstadt des mächtigsten Landes der Erde ist vielleicht das beste Beispiel für das Paradox Amerika. In keiner anderen amerikanischen Großstadt existieren derartig krasse Gegensätze so schweigend nebeneinander. Nirgendwo sonst ist die schwarze Mittelklasse reicher, die Zahl mittelloser schwarzer Obdachloser größer. Wo heute das Weiße Haus steht, florierte vor zweihundert jahren einer der größten Sklavenmärkte des Landes. George Washington, erster US- Präsident und Namensvater der Stadt, war damals einer der reichsten Sklavenhändler der Neuen Welt.
Washington ist wie ein großes Denkmal. Allabendlich leuchtet das Thomas Jefferson Memorial in die Nacht, die Gedenkstätte für den Mann, der den Amerikanern ihr demokratisches Credo von Freiheit, Gleichheit, Recht und dem Streben nach Glück in die Unabhängigkeitserklärung schrieb. Geliebte Hauptstadt. Im Mittelpunkt des Interesses: die Mall, die Monumente, das Weiße Haus. Einmal das Schlafzimmer des Präsidenten sehen.
James hingegen interessiert nur der Wetterbericht aus seinem alten Radio. Wenn die Sonne scheint, sind die Touristen spendabler. Wenn es schneit, kommen die von der Kirche und bringen Essen. Oder eines Tages ja vielleicht doch noch irgendeinen Job. Irgendeinen Weg, um irgendwie irgendwann wieder in einem Bett zu schlafen.
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