: Ein Mann macht Geschichte
Mission erfüllt: Nach einem historischen Sieg in einem historischen 200m-Rennen hat der US-Historiker Michael Johnson erst mal keine Ziele mehr ■ Von Matti Lieske
Atlanta (taz) – Wahrhaftig ein historischer Tag! Historisch das Double der Französin Marie-José Perec über 400 und 200m, auch wenn Valerie Brisco-Hooks dasselbe schon bei den Boykottspielen von Los Angeles 1984 geschafft hatte. Historisch das Silbermedaillen-Double, das Frank Fredericks aus Namibia in Barcelona und Atlanta über 100 und 200m schaffte. Historisch das Bronzemedaillen- Double, das Ato Boldon als erstem 22jährigen Sprinter aus Trinidad in zwei Weltrekordrennen gelang. Historisch die Leistung von Merlene Ottey, die bei fünf Sommerspielen jeweils das Finale des 200m-Laufs erreichte und insgesamt sechs Medaillen gewann, aber keine goldene. Und vollends historisch das Double von Michael Johnson, der in der folgenden Pressekonferenz ungefähr neunzehnmal darauf hinwies, daß er nun „Geschichte geschrieben“ habe.
Ein Jahr lang hatte er von nichts anderem geredet als seiner sogenannten Mission. Bis zumindest in den USA tatsächlich jeder glaubte, daß es etwas ungemein Bedeutendes sei, wenn ein Läufer bei Olympischen Spielen über 200 und 400m triumphiere. Am Ende hatte Johnson aber wieder Pech. Sein Gold über 400m war am Montag vom Weitsprungsieg des historischen Rivalen Carl Lewis in den Schatten gestellt worden, und als er sich am Donnerstag abend anschickte, seine Mission und die seines Schuhsponsors endlich zu erfüllen, tat Perec eine Viertelstunde vorher einfach das Gleiche, ohne auch nur annähernd so viel Wind darum zu machen. Aber dann lief Michael Johnson über 200m einen phantastischen Weltrekord – und alles war wieder gut.
„Wenn du eine schnelle Bahn hast, und wenn du schnelle Leute hast, dann bekommst du eine schnelle Zeit“, sagte der 28jährige, der 1992 in Barcelona wegen einer Lebensmittelvergiftung nicht ins Finale gekommen war. Dabei hatte er auf der knallharten Bahn des Olympiastadions von Atlanta, die den Langstreckenläufern die Füße kaputtmacht, den Sprintern aber entgegenkommt, sogar den Start verpatzt. Mit der zweitbesten Reaktionszeit kam er aus den Blöcken, stolperte aber beim vierten Schritt, und Ato Boldon zog vorbei. Bei 70 Metern hatte Johnson seinen Rhythmus gefunden und setzte sich an die Spitze. „Hier kommt der Erste“, dachte Boldon, der dann auch noch von Fredericks überholt wurde. Die goldenen Schuhe Johnsons passen zu dem nüchternen Tartan-Bürokraten ungefähr so wie ein Glatze zu Pete Sampras; die letzten hundert Meter aber trommelten sie in einem noch nie dagewesenen Stakkato über die Bahn. Historisch eben. Im Ziel hatte Michael Johnson 19,32 Sekunden gebraucht, mehr als drei Zehntel weniger als bei seiner Verbesserung des 17 Jahre alten Rekordes im Juni. Eine Steigerung von derart gewaltigen Ausmaßen in einer Sprintdisziplin hatte es zuletzt 1988 durch Florence Griffith- Joyner und Ben Johnson gegeben, womit natürlich keineswegs etwas insinuiert werden soll.
„Wenn ich gewußt hätte, daß er 19,32 läuft, wäre ich gar nicht erst gekommen“, sagte Boldon. Der Weltrekordler selbst erklärte bildreich, wie es ist, so schnell zu rennen. Als Kind habe ihm sein Vater einen Go-Kart geschenkt, und er sei damit immer rasanter den Berg hinunter gebraust. „Kaufen Sie sich einen Go-Kart und rasen sie steil abwärts, dann wissen sie, was das für ein Gefühl ist“, empfahl er den Journalisten, und Fredericks warf ein: „Das wird meine nächste Trainingseinheit.“
Fünf Meter vor dem Ziel spürte Johnson ein Zwicken im Oberschenkel. Nichts Ernstes, sagte er, die 4 x 400m-Staffel könne er in jedem Fall laufen. Keine Ambitionen hat er, was einen Platz in der 4 x 100m-Staffel betrifft, verriet er mit einem seitenhiebartigen Grinsen, das Carl Lewis galt. Sehr wohl hat er jedoch die verbalen Nadelstiche der 100m-Sprinter gespürt, die sich über sein Double lustig machten und erklärten, wenn er wirklich der schnellste Mann der Welt sein wolle, müsse er gefälligst den kurzen Sprint laufen. „Ich weiß nicht, ob ich die 100 laufen muß, um zu beweisen, daß ich der Schnellste bin“, kommentierte Johnson das Ansinnen, „aber Jon Drummond meint, ja. Also tue ich es vielleicht.“
Er wird es schön bleibenlassen. Mit seinen Problemen beim Start und der Tendenz, spät auf Touren zu kommen, hätte er wenig Chancen. Und einmal hat er sich schon zum Narren gemacht. Wie Johnson denn auf den 100m ausgesehen habe, wurde damals Linford Christie gefragt. Antwort: „Keine Ahnung, ich war vor ihm.“
Jetzt, da er das große Ziel in seinem Leben – Geschichte schreiben – erreicht hat, weiß Michael Johnson nicht so recht, wie es weitergehen soll. „Ich habe bisher nur bis zur Staffel gedacht.“ Ob er beim Meeting in Zürich startet? Keine Ahnung. Wie lange er noch läuft? Mal sehen. Sollte er irgendwann die Goldschühchen an den Nagel hängen, will er auf jeden Fall im Sportbereich bleiben. „Ich habe gerade eine Beteiligung am NBA- Klub Dallas Mavericks erworben“, berichtete er, „ich möchte mehr über diesen Sport lernen.“ Besonders interessiere ihn herauszufinden, „warum sie einem Typen neun Millionen Dollar zahlen“.
Zunächst aber will er selbst die Früchte seiner erfüllten Mission ernten und ordentlich Dollars verdienen. Das könnte durchaus ein paar Jahre dauern, und dann wartet in Sydney schon die nächste historische Tat: Bei Olympia 2000 könnte Michael Johnson als erster Mensch zum zweitenmal das Double schaffen. Vorausgesetzt, Marie-José Perec kommt ihm nicht wieder in die Quere.
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