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Erst Aralsee, dann Salzwüste und schließlich Katastrophe

Erst war der See, dann kam die Bewässerung der Baumwollfelder, und der See ward Wüste. Und die Wüste verheerte Mensch und Tier. Und die Menschen wurden krank. Das Salz des ausgetrockneten Sees aber weht bis ins Pamirgebirge und bringt dort schon die Gletscher zum Schmelzen. Die Regierenden in Mittelasien haben ihren Aralsee längst aufgegeben.  ■ Aus Aralsk (Taschkent) Thomas Ruttig

Der Hafen von Aralsk liegt im Abendlicht. Bewegungslos ragen Kräne in den tiefblauen Himmel. Bei den Speichergebäuden und an den Fischkuttern im Hafenbecken findet sich keine Menschenseele. Doch das liegt nicht am Feierabend. Die Schiffe von Aralsk sind schon seit Jahrzehnten nicht mehr ausgelaufen. Das Meer, das sie einst befuhren, existiert nicht mehr: Der Aralsee, mit einer Fläche fast von der Größe Bayerns einst der viertgrößte Binnensee der Erde, stirbt. Er hat bereits die Hälfte seiner Ausdehnung und drei Viertel seines Wasservolumens verloren.

Von der einstigen kasachischen Hafenstadt mit ihren 37.000 Einwohnern bis zum nächsten Ufer sind es heute etwa 80 Kilometer. Der See ist nur querfeldein in halsbrecherischer Fahrt mit dem Jeep zu erreichen. Der ehemalige Seeboden hat sich in eine riesige Sand- und Salzfläche verwandelt, auf der bestenfalls hartes Gras und niedriges Dornengestrüpp wachsen. Die Schiffe von Aralsk rosten in der Restlache des Hafenbeckens oder bereits mitten zwischen Sanddünen vor sich hin. Auch ein Schwimmbagger, mit dem die Hafenbehörde vor Jahren wohl verzweifelt versucht hatte, die Fahrrinne zum See offenzuhalten, liegt längst auf Grund.

Die Schwimmbagger liegen in Aralsk auf Grund

Professor Pirmat Schermuhammedow steht an einem eisernen Zaun, hinter dem das einstige Hafengelände beginnt, und erinnert sich. „Als ich zehn oder zwölf Jahre alt war, habe ich hier das Wasser noch gesehen. Es gab den Hafen und gleich daneben einen wunderschönen Strand. Einmal bin ich sogar von hier aus mit einem Schiff über Moinak und den Amu-Darja in mein Heimatdorf gefahren.“ Nachdenklich blickt er auf das verbogene Gestänge, das einst der Sprungturm der Badeanstalt war und nun nutzlos vor sich hin rostet. „Ich kann bezeugen, daß der Aral einmal bis hierher gereicht hat.“

Der Usbeke Schermuhammedow ist eigentlich Linguist. Doch bereits seit Jahren hat er sich der Erhaltung der Umwelt in seiner mittelasiatischen Heimat verschrieben: dem Erhalt der sterbenden Seen Aral und Balchasch und der Saiga-Antilope, die einst in Millionenherden die Steppen zwischen Kaspischem Meer und Pamir bevölkerte, aber dann der Erfüllung des sowjetischen Fleischplanes zum Opfer fiel. Sogar eine usbekische grüne Partei hat er gegründet, nur registriert ist sie noch nicht. Präsident Islam Karimow sieht Opposition nicht gern, und wenn Schermuhammedow sein Anliegen befördern will, darf er die Staatsmacht nicht verärgern.

Kodaibergen Shasekenow hat als Kind noch im Aral gebadet. Heute ist der Veteran des Großen Vaterländischen Krieges – eine kleine Tafel am Hoftor weist darauf hin – Rentner. Er wohnt mit seiner Frau Salima, einem Sohn, Schwiegertochter und Enkelin gleich am Aralsker Hafen. „Hier haben viele Menschen gelebt, Kasachen, Russen, Kalmücken, Tschetschenen, Deutsche“, erzählt er, während seine Frau Salima Tee eingießt. „Es ging ihnen gut, sie lebten von den Fischen. Mein Vater, mein Onkel und alle ihre Brüder waren Fischer. Aber Anfang der 70er Jahre begann der See kontinuierlich zurückzugehen. Das hing damit zusammen, da damals in Turkmenistan der Karakum- Kanal gebaut wurde, der viel Wasser aus dem Amu-Darja abzog. Mittlerweile muß man fast 100 Kilometer gehen, um ans Meer zu kommen. Das Wetter hat sich geändert, der Boden ist versalzen, es gibt jetzt viel mehr Sandstürme als früher. Sehen Sie nach draußen – es hat in diesem Jahr noch nicht ein einziges Mal geregnet.“

Geblieben sind in Aralsk nur die Kasachen. „Hier kann man wenigstens Brot kaufen“, sagt Salima Shasekenowa, „denn zum Glück liegen wir an der Eisenbahn.“ Die Bevölkerungszahl der Stadt ist sogar gestiegen. Viele Einwohner der umliegenden Dörfer, die einst vom Fischfang ihr Leben bestritten, zogen in der Hoffnung hierher, Arbeit zu finden und ihre Heimat nicht ganz verlassen zu müssen.

Die Fabrik verarbeitet Fische aus Fernost

Aber Arbeit gibt es kaum noch. Die meisten Betriebe mußten schließen, die Konservenfabriken arbeiten nur sporadisch, wenn Fisch aus dem Ausland kommt, aus dem fernen Osten Rußlands oder den baltischen Republiken. „Sehen Sie sich die Jungen an“, klagt ein Großmütterchen, das sich an einer Straßenecke die Rente mit dem Verkauf von Süßigkeiten aufbessert, „sie lungern herum, weil es nichts zu tun gibt.“

Und wer bleibt, zahlt einen hohen Preis. Auch wenn die Behörden es nicht wahrhaben wollen: Der Gesundheitszustand der Bevölkerung ist beängstigend. Nieren-, Augen- und Lebererkrankungen vom Salz in der Luft und den Pestiziden im Wasser sind weit verbreitet, zwischen 60 und 80 Prozent der Frauen leiden an Anämie. Kinder werden mit Mißbildungen an Händen und Füßen geboren. Spontan zieht auf dem Markt eine junge Frau ihrem neunjährigen Sohn die Schuhe aus und weist auf die unförmigen Zehen. „Das ist die Ökologie“, erklärt sie. Am Aral ist das Wort zum Synomnym für Katastrophe geworden.

Einigermaßen Klartext redet nur Gulsara Altynbekowa. Die 40jährige ehemalige Lehrerin ist Stellvertreterin des Gouverneurs (Hakim) des Gebiets Kysyl-Orda, zu dem auch Aralsk gehört, und zuständig für soziale Fragen. „Seit 1991“, berichtet sie, „hat sich bei Kindern die Zahl der Darminfektionen um das Dreifache, von Nierensteinen um das Fünf- bis Sechsfache und von Hepatitis um das Zehnfache erhöht. Die Zahl der Tuberkulosekranken ist hier doppelt so hoch wie im Republikdurchschnitt.“ In der Muttermilch seien zudem Spuren des Raketentreibstoffes Heptyl gefunden worden, was mit dem benachbarten Weltraumbahnhof Baikonur zusammenhänge.

Jahrelang erreichten die Flüsse den See gar nicht

Das Austrocknen des Aral ist nur die sichtbare Seite der mittelasiatischen Ökokatastrophe. Verursacht wurde sie von der Moskauer Politik, die Mittelasien zum Baumwollieferanten der alten Sowjetunion machte. Riesige Flächen wurden der Wüste abgerungen. Bewässert wurden sie über verzweigte Kanalsysteme aus den beiden einzigen Aral-Zuflüssen, dem Amu- und dem Syr-Darja. Ende der 80er Jahre erreichten beide Ströme für mehrere Jahre den See überhaupt nicht mehr, versickerten einfach in der Wüste und leiteten so dessen schleichenden Tod ein. Im See selbst verdunstete das Wasser, der Salzgehalt stieg, und die Fische starben aus. Inzwischen erreichen beide Flüsse zwar den Aral wieder, bringen dadurch aber eine neue Gefahr mit sich: die auf den Baumwollfeldern ausgewaschenen Pestizide und Herbizide, die so ins Trinkwasser oder über Gemüse und Obst in die Nahrungskette gelangen.

Was vom zurückgehenden Aral bleibt, ist das Salz. Weiß wie Schnee überzieht es Quadratkilometer für Quadratkilometer den ehemaligen Seegrund, blendet die Augen. Selbst im relativ windstillen Frühling, bilden sich in der Ferne immer wieder blendend weiße Windhosen: reines Salz. Bei Sturm, so erzählen die Kasachen im nahe liegenden Aul Dshambul, könne man tagelang die Hand vor Augen nicht sehen. 70.000 Tonnen Salz sollen es im Jahr sein, die in die angrenzenden Länder geweht werden, sagt Professor Schermuhammedow. Dort macht es Felder unfruchtbar und zerstört Weiden; im Pamir trägt es zur Abschmelzung der Gletscher bei, was wiederum Erdrutsche und Hochwasser auslöst. Der sterbende Aral hat einen ganzen Teufelskreis ökologischer Katastrophen ausgelöst.

Der See hat sich inzwischen in zwei Teile geteilt. Auftauchende Inseln bilden eine Barriere zwischen dem Kleinen Aral im Norden und dem Großen Aral im Süden. Nur noch durch eine Schleuse stehen sie miteinander in Verbindung. Die Kasachen, die einzigen Anrainer des Kleinen Aral im Norden, wollen sie am liebsten geschlossen halten. „Ihr“ Kleiner Aralsee liegt höher als der größere Rumpf im Süden, den sie sich mit den Usbeken teilen müssen, und droht deshalb, sein letztes Wasser noch einzubüßen.

Die Weltbank hat ihre bereits zugesagten Hilfsgelder für den mittelasiatischen Aralsee-Fonds noch nicht freigegeben. Erst sollen sich die betroffenen Staaten über ein gemeinsames Herangehen an das Problem einigen. Neben dem Fonds haben sie zwar ein „Zwischenstaatliches Aral-Komitee“ gegründet und mehrere Beschlüsse zur Rettung des Sees gefaßt, aber dies alles steht immer noch auf dem Papier.

Die kasachische Regierung hat längst die Geduld verloren und will nun wenigsten den Kleinen Aral retten. Den größeren Südteil hat man längst ausgegeben. Jetzt wird ein Kanal gebaut, der das Wasser des nördlichen Zustroms Syr-Darya in diesen Teil des Gewässers leiten soll, und auch die Inselbarriere soll zu einen festen Damm werden. Das neue Flußwasser soll den Salzgehalt des Sees langsam senken und das Gewässer dadurch wieder für Fische bewohnbar machen. Dem ehemaligen Fischerei-Kolchos in Dshambul, so erzählt der stellvertretende Kreischef von Aralsk, Ahmetullah Umbetow, habe man zu Kontakten zu Kollegen in Dänemark verholfen. Von dort sollen salzwasserresistente Schollen im Kleinen Aral angesiedelt werden.

Und dann wird wieder ein Fluß umgeleitet

Doch ein großes Problem bleibt bestehen: der Interessenkonflikt zwischen den Agrarbetrieben am Oberlauf des Flusses, die ihre Felder weiter bewässern müssen, und den Fischern am Unterlauf. Kasachstan wird deshalb um Verhandlungen mit den Usbeken und Kirgisen nicht herumkommen.

„Wir haben den See verloren, wir haben den Hafen verloren, und wir haben die Schiffe verloren“, sagt Schermuhammedow. „Aber was mich am meisten bewegt, ist: Die Kinder, die hier in den 70er und 80er Jahren geboren wurden, wissen gar nicht mehr, was hier früher war. Nur die ältere Generation kennt die Tragödie, die sich hier ereignet hat. Die Alten haben sie überlebt und machen sich Gedanken über die Ursachen.“ Doch sie sind pessimistisch. „Nein, ich sehe keine Perspektive“, meint Shasekenow, „man kann weder den Karakum-Kanal schließen noch die Staubecken der Sowchosen.“

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