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Fast wie in einer anderen Stadt

BewohnerInnen der Notunterkunft in Köln-Niehl brauchen drei Sprachen. Susanne Heinen ist zur begeisterten Bewohnerin geworden. Selbsthilfe und eine Kultur der Armen wie im sonnigen Süden  ■ Von Christiane Haas

Als sie vor drei Jahren hier eingezogen ist, hatte Susanne Heinen jede Menge Vorurteile. Sie und ihre Kinder sind an den Leuten vorbeigeschlichen und haben sich nicht einmal getraut zu grüßen. Bei den Nachbarn in Köln-Niehl hieß es deshalb: „Guck dir die an, die glaubt, sie sei was Besseres.“ Ihr wurden Eier an die Fenster geworfen, und sie fand Hundehaufen vor ihrer Tür. Ihre Töchter Friederike und Janine, inzwischen neun und sechs Jahre alt, spielten anfangs nur im Zimmer. Oder Susanne Heinen fuhr mit ihnen nach Nippes zum Spielplatz – immer nur weg aus der Straße.

In Kölns Notunterkunftsiedlung leben 450 Menschen – im toten Winkel zwischen Niehler Hafen und Gewerbegebieten. Der rauhe Umgang der Kinder miteinander habe sie abgeschreckt, sagt Susanne Heinen. Am schlimmsten waren für sie die Drogenabhängigen, die im Treppenhaus ihre Spritzen liegenließen. Sogar nachts lagen Junkies im Hausflur und vor ihrer Tür. Sie hat kein Telefon und kann nicht um Hilfe rufen.

Samstag, 14 Uhr: Inmitten einer Gruppe von Drei- bis Fünfzehnjährigen wartet Susanne Heinen. Als Vorstandsmitglied der Interessengemeinschaft Flemingstraße engagiert sie sich für die Siedlung. Die Kinderaufräumaktion war ihre Idee. Der Spielplatz war lange Zeit so verdreckt, daß niemand mehr hinging. Die Kinder spielten auf der Straße und fischten sich ihr Spielzeug aus Altpapier- oder Altglascontainern. Der Müll blieb anschließend auf der Straße liegen, erzählt Susanne Heinen. „Da habe ich mir die Kinder geschnappt und gefragt: Was würdet ihr davon halten, wenn die Straße schön sauber ist?“ Die waren begeistert. 48 Kinder stehen bereits auf ihrer Liste.

Gerade hat der Hauswart den Keller aufgeschlossen. Mit Besen, Zangen, Kehrschaufeln und Eimern rückt der Putztrupp an. Susanne verteilt die Aufgaben: Straßen fegen vor Haus 18, mit den Zangen Abfall auflesen, jede Woche ein anderer Bereich. „Es gibt sehr viele Kinder, die wissen den ganzen Tag lang nicht, was sie machen sollen. Die Eltern kümmern sich zu wenig um sie“, sagt Susanne Heinen. Seitdem sie jeden Samstag mit ihnen hier aufräumt, sprechen die Kinder sie an und erzählen auch von ihren Problemen: „Sie wissen, daß ich nicht zu ihnen sage: Laß mich in Ruhe.“ „Auch die Jugendlichen, die sonst mit ihrer Zigarette cool auf der Straße stehen und die Leute anpöbeln, sind mit dabei.“

Und die Kinder aus den „weißen“ und den „gelben“ Häusern in der Siedlung schließen Freundschaft. Das sind nämlich zwei Welten: Die „gelben“ Häuser stammen aus der Nachkriegszeit. Manche Familien leben dort schon seit mehr als 30 Jahren. Sie haben ein reges Gemeinschaftsleben. Manche Bewohner der erst vor drei Jahren bezogenen, besser ausgestatteten „weißen“ Häuser lassen die Leute aus der alten Siedlung spüren, daß deren Wohnungen schäbiger sind. Die wiederum schimpfen auf die neue Siedlung, wo es – weil sich die Leute kaum kennen – viel Streit gebe und häufig die Polizei komme. Susanne Heinen hofft, daß die Freundschaften der Kinder helfen, Vorurteile der Erwachsenen abzubauen. Sie lebt in einem der „weißen“ Häuser. Wegen Eigenbedarf klagte man sie vor fünf Jahren aus ihrer Wohnung. Eigentlich kommt sie aus Köln-Nippes, wo sie sich sehr wohl fühlte. Hier ist alles anders, sagt sie: „Man ist beinahe in einer anderen Stadt.“ Hier werde sehr stark nach Klassen getrennt. In der Stammheimer Straße, das seien die feinen Leute: „Die tragen ihre Nasen bald auf dem Rücken. Wenn die Flemingstraße hören, machen sie ihre Läden dicht. Als ob wir Bomben schmeißen.“

Susanne Heinen hat sich mit der Zeit angepaßt. Drei Sprachen braucht sie hier, Hochdeutsch, Kölsch und „über andere Leute“. Sie hat sich einen Bekanntenkreis aufgebaut und ist froh, eine Wohnung mit Heizung zu haben, keine Bruchbude und groß genug für die Kinder. Sie will nicht mehr weg. Die Wohnlage hat Vorteile: Friederike und Janine können gefahrlos in der Einliegerstraße spielen und nach der Schule im Kindergarten gegenüber in den Hort gehen – eine große Erleichterung für Susanne, die demnächst mit ihrer Lehre beginnt.

Sie hofft, daß sich die positive Entwicklung der Siedlung fortsetzt. Seit etwa einem Jahr arbeiten Bewohner daran, ihre Umgebung neu zu gestalten, bepflanzten die Vorgärten mit Blumen, errichteten einen Wäscheplatz, stellten Holzbänke, -tische und Gemeinschaftsgrills auf – alles in Eigenarbeit. Für die Kinder entstand ein neuer Spielplatz, der Bolzplatz ist beinahe fertig, eine Rollschuhbahn in Planung. Unterstützung erhalten sie vom „Flemingos e. V.“, der sich seit Anfang 1995 für Jugend- und Gemeinwesenarbeit in der Siedlung engagiert. Die Stadt stellt Material zur Verfügung. Unter der Schirmherrschaft des Vereins gründeten die Bewohner vor drei Monaten die Interessengemeinschaft (IG), deren Vorstand sich jetzt alle vierzehn Tage trifft, um über Probleme der Siedlung zu beraten. Der IG geht es vor allem darum, daß sich die Menschen hier besser verstehen. Sie wollen auch außerhalb der Siedlung klarstellen, daß „hier nicht nur Gesocks wohnt, das alte Omis überfällt“. Damit Taxifahrer nicht mehr zusammenzucken, wenn sie den Straßennamen hören und fragen, ob sie einen schon vorne an der Ecke herauslassen können. Die Leute sollen sagen: „In dieser schönen Gegend hätte ich gern eine Wohnung“, wünscht sich Susanne Heinen.

Ernst Fischer lebt mit seiner Frau seit 1983 in den „gelben“ Häusern. Nachdem seine über das Bundessozialhilfegesetz finanzierte Stelle im Juli auslief, ist er wieder arbeitslos. Er sieht wenig Chancen für eine neue Stelle. Fischer ist 44 Jahre alt, Glas- und Gebäudereiniger, hat starkes Übergewicht: „Wenn ein Arbeitgeber das sieht, ist es vorbei, das ist grauenvoll.“ Mit seiner Frau Petra hat er drei Töchter, die vierte kommt in wenigen Tagen zur Welt. Ihr größtes Problem: Die 62-Quadratmeter-Wohnung platzt aus allen Nähten. Sie wissen nicht, wo sie den Kinderwagen hinstellen sollen, nehmen die beengte Situation aber so lange in Kauf, bis in den „gelben“ Häusern endlich eine größere Wohnung frei wird: „Wir wollen hier nicht raus.“ Seine Frau pflichtet ihm bei: „Auch wenn ich im Lotto gewinne, würde ich hier nicht ausziehen.“ Sie wohnt seit ihrem achten Lebensjahr in der Flemingstraße und bringt ihr Verhältnis zur Siedlung auf eine einfache Formel: „Hier war es schön, hier ist es schön, und hier bleibt es schön.“ Für die Fischers ist ihre Wohnung eben nicht bloß eine „Notunterkunft“.

Was ist für sie das Besondere an der Siedlung? Das Zusammenleben, die Kameradschaft, sagen sie. Danach richtet sich in den „gelben“ Häusern der gesamte Tagesablauf. Bis um zehn Uhr wird der Haushalt gemacht, dann sitzen die Familien bis abends auf der Straße zusammen. „Wir kochen unten auf der Straße, jung und alt, Deutsche und Türken gemischt, praktisch wie eine Großfamilie. Und das sehen Sie woanders nicht.“ „Wir sitzen im gleichen Boot“, fügt ihr Mann hinzu, „wenn das untergeht, gehen wir alle unter.“ Als Vorsitzender der IG will er sich dafür einsetzen, daß der geplante Begegnungsraum bald eingerichtet wird – damit die Bewohner das Gemeinschaftsleben auch im Winter fortsetzen können.

Es ist drei Uhr, die Putzkolonne macht Pause. Kinder scharen sich um die Holztische, wo Herbert Hoffmann Eis und Getränke für sie hingestellt hat. Er gehört zu den „Flemingos“ und kennt die Siedlung seit vielen Jahren. Jeden Samstag ist er hier. Ernst Fischer nennt ihn pathetisch „unseren zweiten Gott auf Erden“, weil die Siedlung Hoffmann so viel verdankt. „Früher“, erzählt Fischer, „haben die Jugendlichen viel mehr randaliert.“ Dann habe Hoffmann vor fünf Jahren angefangen mit ihnen zu arbeiten, um die Siedlung in Ordnung zu bringen. Da gab es keine Schlägereien, keine Einbrüche mehr.

Herbert Hoffmann beobachtet, daß in der Straße eine „Kultur der Armen“ wieder auflebt, wie es sie im Süden, in Spanien oder Italien, noch gibt, wo viele Familien gemeinsam draußensitzen. Der Schutz der Gruppe sei besonders wichtig, weil hier Menschen wohnen, die von der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Typisch für ihre Lebensweise: Tische, Bänke und Grills stehen mitten auf der Wiese, genau da, wo alle vorbeigehen. „In einer bürgerlichen Siedlung würden diese Bänke gemieden“, ist Hoffmann sich sicher, „und die Grills stünden hinter den Häusern.“

Früher habe die Stadt eine falsche Strategie verfolgt, jedes eingeworfene Fenster, jede eingeworfene Tür sofort ersetzt, den Bewohnern aber auch keinerlei Freiheiten zugestanden. Betreten der Wiesen und Ballspielen waren verboten. Inzwischen habe man angefangen, die Bewohner „wie normale Menschen zu behandeln“, die für angerichtete Schäden selbst aufkommen, aber auch Entscheidungen treffen. Wie sehr die Leute hier gewohnt sind, verwaltet zu werden, habe er auf den ersten Versammlungen der IG bemerkt. Immer wieder hörte er die Frage: „Was dürfen wir?“ Jetzt werde diskutiert, was die Bewohner eigentlich wollen.

Die gemeinsame Arbeit, so Hoffmann, führe allmählich zu einem Wandel: „Die Norm ist jetzt: Wir wollen es schön haben.“ Nicht jeder außerhalb der Siedlung versteht, warum die Stadt sogenannten Faulenzern und Asozialen Blumen für die Vorgärten, Holz für Sitzgruppen oder gar Gemeinschaftsgrills gibt. Dabei können solche einfachen Mittel dazu beitragen, daß Menschen an ihrer schwierigen Situation am Rande der Gesellschaft nicht verzweifeln und weniger Gewalt entsteht. Hoffmann: „Das erspart viele Polizeieinsätze.“

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