■ Daumenkino: Verführung
Für mich soll's große Gnocchi regnen. Während der Filmfestspiele in Cannes war der Film mit einem Riesenkonterfei der Hauptdarstellerin Liv Tyler auf der Croisette präsentiert worden; Händler warfen Klettermäxchen aus Gummi daran hoch, die ihr langsam wieder die Nase herunterkrabbelten, die bunten Illustrierten kaprizierten sich vor allem auf ihre Verwandtschaft mit dem Aerosmith- Gitarristen, und auf ihre Jugend. Was ich damit sagen will, ist: Dem Film war eine seltsame Art von Nervosität vorausgegangen, die nichts Gutes verhieß. In der Premiere passierte dann etwas, was in Cannes sonst nie passiert: Ein Autorenfilm wurde schallend ausgelacht und das gerade an den Stellen, an denen er am allerernstesten gemeint war. Der Kollege von den Cahiers hat geradezu gewiehert, ich habe es genau gesehen.
Das Wort „Stellen“ macht seinem frivolen Beigeschmack hier alle Ehre. Es handelt sich um die Geschichte der sexuellen Initiation einer jungen amerikanischen Schönheit, welche in goethefähiger Landschaft in der Toscana stattfindet. Quer durch den Olivenhain gehen frischgebräunte, durch leichten Rotwein konservierte Künstler über sanft gewellte Hügelketten. Einige von ihnen fertigen erschütternde Tonskulpturen aus wettergegerbtem Terrakotta an, andere (Jeremy Irons) sterben einen getragenen Tod, wobei sich der Verfall umgekehrt proportional zur Gravitätik oder zum Gravitismus des Gesagten verhält. Gedichte werden verfertigt.
Wieder andere geben „psychologische Libido-Ratschläge“. Ein Problem: Es findet sich nicht eine sympathische Figur! Das Mädchen Lucy (Drehbuch: „Die langbeinige Romantikerin im Grunge-Outfit“) sucht nicht nur einen Liebhaber, sondern auch noch ihren leiblichen Vater, und da liegt es doch – gerade in einer Situation, in der überall an Mann und Maus gespart werden muß – nahe, sich in einer Unio mystica beider zu versichern. Scharwenzelnde Kandidaten gibt es genug, überhaupt: „Lucys erwachende Sinnlichkeit entwickelt sich zum Lieblingsthema der Freidenkergemeinde. Und so zehrt jeder der Anwesenden auf seine Weise von den Vibrationen des ersten Verliebtseins.“ Man fühlt sich irgendwie beschlabbert. Was geht die Onkels und Tanten eigentlich anderer Leute Entjungferung an? mn
„Gefühl und Verführung“. Regie: Bernardo Bertolucci
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