■ Vorschlag: Wechselbad der Bewegungen: Das Teatro Inercia tanzt Alltagsrituale
„Körpertheater“, dieser Untertitel klingt nicht gerade einladend. Erinnerungen an viel mystisches Gehampel werden da wach, hip in den Siebzigern und frühen Achtzigern, als auch noch die letzte Freie Gruppe glaubte, sich konvulsiv mit den (falsch verstandenen) Theorien des polnischen Theaterpapstes Jerzy Grotowski auseinandersetzen zu müssen. Was Shanti Oyarzabal und sein Teatro Inercia jedoch im Theater Zerbrochene Fenster auf die Bühne stellen, straft das Kritiker-Vorurteil vom ersten Moment an Lügen. Und das, obwohl es um ein eher hochgestochenes Thema geht.
Die zwischenmenschlichen Kommunikationscodes sind Gegenstand der tänzerischen Untersuchung: Körpersprache und Gebärden. Dabei mischen die sechs TänzerInnen Alltag und Ritual, stellen „tierische“ Verhaltensmuster neben menschliche. Wie eine Horde Schimpansen kauern sie anfangs in scharfgeränderten Käfigen aus Licht und versuchen linkisch miteinander Kontakt aufzunehmen. Später durchmißt einer der Tänzer wie ein angespanntes Raubtier den Raum, unablässig und immer schneller den vollgepfropften Tagesstundenplan eines vielbeschäftigten Großstadtwesens deklamierend. Auf spanisch. Der Bruch ist das Prinzip dieser Körper-Collage. Schwyzerdütsch, englisch, französisch fliegen die Sprachfetzen durch den leeren Raum – der Klang und die Gestik sind wichtiger als der Inhalt der Worte. Da setzt ein Tänzer die Gebetsgesten verschiedener Religionen zu einem neuen Ritual zusammen; und statuarische Posen, wie man sie von ägyptischen Grabreliefs kennt, verwandeln sich schleichend in eine stilisierte Kampfsituation. Staunen und Angst, Unterdrückung und Ohnmacht, das ganze Kompendium menschlicher Körperzeichen wird ineinander verwoben.
Einen roten Faden hat dieses Wechselbad der Bewegungen nicht, aber es wirft witzig nachdrückliche Schlaglichter auf alle möglichen Verhaltensmuster, ohne dabei in falschen Mystizismus zu verfallen. Daran haben die präzise agierenden SchauspieltänzerInnen, die keine Sekunde die Spannung verlieren, genauso Anteil wie Oyarzabals geschickt mit rhythmischen Breaks arbeitende Gruppenchoreographie. Die Live-Musik der Gruppe KIRIT (Thomas Ritthoff und Bernd Kirchner) tut ein übriges. Meditative Klänge wechseln ab mit Weltmusik-Zitaten. Eine aufregende Reise durch die Kulturen, mit ihren verschiedenen Kommunikationsformen – und eben doch Körpertheater. Gutes! Gerd Hartmann
Teatro Inercia: „Hieroglyphos“, 11. bis 14., 17. bis 21. 10., 20.30 Uhr, Theater Zerbrochene Fenster, Schwiebusser Straße 16, Kreuzberg
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